“Als Israel auszog aus Ägypten.” Ein Psalm zum Taufstein

Psalm 114
Als Israel auszog aus Ägypten,
    das Haus Jakobs aus stammeldem (barbarischem) Volk,
da wurde Juda sein Heiligtum,
    Israel sein Herrschaftsgebiet (Reich).
Das Meer sah es und floh,
der Jordan bog rückwärts zurück.
Die Berge hüpften wie Widder,
die Hügel wie Lämmer.
Was hast du, Meer, dass du fliehst,
    du, Jordan, dass du zurückbiegst?
Ihr Berge, was hüpft ihr wie Widder,
    ihr Hügel wie Lämmer?
Vor dem Herrn tanze (winde dich, erbebe), Erde,
vor dem Antlitz des Gottes Jakobs,
der den Felsen verwandelt in einen Wasserteich,
den Kiesel in einen Wasserquell.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott und dem HERRN Jesus Christus.

Liebe Gemeinde

Als ich mich entscheiden musste, welchen der sechs Psalmen aus dem ägyptischen Hallel ich euch heute auslegen will, war es schnell klar: den 114. Warum? Wenn drei Kinder getauft werden, dann steht doch die Taufe im Mittelpunkt. Ihr regtet im Vorfeld der Taufgespräche an, dass der ganze Gottesdienst sich doch an der Taufe ausrichten könnte. Und siehe da: der 114. Psalm erfüllt das. Da ist vom Wasser die Rede. Dem Element, womit wir taufen. Vom Wasser: Vom Meer, das zurückweicht, vom Jordanfluss, der seinen Fluss umwendet, vom Felsen, der sich in einen Wasserteich verwandelt und vom Kiesel, der ein Wasserquell wird.

Mit diesem Felsen und Kiesel erinnert der Psalm an eine Begebenheit, welche auf der Wanderung des Volkes der Hebräer durch die Wüste Sinai erzählt wird. In der Wüste fehlt naturgemäss Wasser. Das dürstende Volk und sein ebenso dürstendes Vieh fordern von Mose Wasser. Und Mose bittet Gott und Gott gewährt es ihm aus dem Felsen in der Wüste. So wurde das Wasser in der Wüste eine Geschichte der Errettung und Erhaltung inmitten der grossen Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Und für die christlichen Bibelausleger später ein Urbild der Taufe, dem Wasser zum Leben.

Sie haben sich vielleicht auch schon einmal gefragt, warum wir von Taufsteinen sprechen? Oder warum solche Steine hier als Taufbrunnen dienen. Unsere Tradition hat genau diese Geschichte vom Stein, vom Felsen in der Wüste aufgenommen. Auf einem Stein taufen wir, wie damals aus einem Stein lebendiges Wasser geflossen ist. Eigentlich soll es ja einen Brunnen darstellen. Einen Taufbrunnen, in den wir hineintauchen und herausziehen. Warum aber dann sind die Taufbrunnen solche riesigen Steine? Überhaupt aus Stein und nicht aus Holz, in die Erde eingelassene Becken wie in der Alten Kirche?  Die Antwort gibt unser Psalm: “Der den Felsen verwandelt in einen Wasserteich” – den Felsen, den Taufstein.

Das Wasser spielt auf diesem Auszug aus Ägypten auch eine prominente Rolle. Das Meer sah Mose und floh. Wie er da auf der ägyptischen Seite des Roten Meeres steht und seinen Stab erhebt und dem Meer auf Gottes Geheiss befiehlt, so teilt es sich. Wie auch immer man sich es vorstellen mag: ob ein starker Wind das Wasser aus einer sumpfigen Lagune heraustrieb oder eine seichte Stelle hervortrat, die Rettung des Volkes geschah mitten durch das Meer – und die Streitmacht des Pharao blieb stecken wie die Rote Armee in unseren Tagen im Morast der ukrainischen Ebenen.

Das Gleiche heisst es auch vom Jordan. Da sind nun unsere Bibelkenntnisse gefragt. Auf der gleichen Wanderung übergab nach vierzig Jahren Wüstenaufenthalt Mose seinem Nachfolger Josua die Leitung. Dieser organisierte die Landnahme jenseits des Flusses Jordan im fruchtbaren Jordantal und seinen Anhöhen zwischen Jordan und Mittelmeer. Dazu mussten sie den Fluss überqueren. Und von dieser Überquerung ist uns ebenfalls eine wunderbar anmutende Erzählung überliefert. Der Jordan habe in dieser Zeit Hochwasser geführt und sei täglich über die Ufer getreten, aber unter dem Gebet des Josua habe er sich aufgestaut, die Wasser von oben seien umgekehrt und die unten abgelaufen und hätten so eine Furt durch den Fluss gebildet, auf der das Volk hinüberzeihen konnte.

Der Taufspruch von Emil stammt ja genau aus dieser Begebenheit, ist Gottes Zuspruch für Josua, furchtlos und mutig voranzugehen auf seine Wege hinüber. Auch hier geht es um Bewahrung und Errettung.

So beginnt der Psalm mit dem grundlegenden Errettungsgeschehen: «Als Israel auszog aus Ägypten.» Das Lied nimmt dieses grundlegende Errettungsgeschehen auf mit den Beobachtungen zum Wasser. Wie dieses Element gegen seine Gewohnheit, gegen seien Gesetzmässigkeit, von einem grösseren Gesetz, einer stärkeren Macht, kommandiert und umgepolt wird. Es heisst, dass Meer und Jordan etwas gesehen hätten, das sie überwältigte. Es geschah nämlich zuerst eine Eigentumsänderung: 2 da wurde Juda sein Heiligtum, Israel sein Herrschaftsgebiet (Reich). Das Wasser als totes Element reagiert auf Gottes Wort. Gott erklärt: Dieses Volk ist mein Eigentum. Du bist mein Heiligtum. Du bist mein Herrschaftsgebiet, mein Verwaltungsbezirk. Du gehörst zu mir. Davor weichen Meer und Jordan. Vor dem Wort Gottes. Vor dem Machtwort: Du gehörst mir.

Das genau ist auch der Sinn unserer christlichen Taufe. Das Machtwort über diese drei Knaben. Gottes Machtwort. Von uns gehört und gewagt, weil es uns geboten ist. Aber Gottes Macht. Gottes Verantwortung auch. Wir wissen nicht, was ihnen im Leben begegnet. Welche Aufgaben ihnen bevorstehen. Welche Zumutungen ihnen das Leben stellen wird und welche Chancen es ihnen eröffnet. Ganz sicher werden Mächte und Gesetzmässigkeiten ihre Ansprüche stellen. Man wird sie in ihre Dienste versuchen einzureihen. Man wird ihnen genetische und andere Erbschaften zuschreiben und daraus Ansprüche ableiten und Wege vorzeichnen. Man wird ihnen auch vorschreiben wollen, welche Wege sie zu gehen haben und was sie als das gute Leben anzuschauen hätten. Aber Gott gehören sie. Er hat sein Machtwort über sie gesprochen. Ihm gehören sie und niemandem sonst. Dieser Anspruch ist ein geistlicher. Ein Wort. Ein Wort, das zu glauben wir uns anschicken können oder das wir hören und nicht glauben können. Lange mag es gar nicht darauf ankommen, ob wir glauben oder nicht. In manchem Lebenslauf bleibt es völlig in der Schwebe, was dieser geistliche Eigentumsanspruch Gottes bedeutet und gegen was er sich abgrenzt.

Wem gehöre ich? Wer bin ich?

In der Pubertät wird die Frage anders gestellt werden als jetzt in den nächsten Jahren der Kindheit. In den kommenden Jahren wird die eigene Antwort lauten: Zu euch, zu meinen Eltern, zu meiner Familie. Und sie wird und darf euch stolz machen. Später werden wir dafür bezahlen mit der bitteren Erkenntnis: sie waren uns anvertraut und müssen ihre eigenen Wege gehen. Vielleicht werden sie später wieder dankbar für diese Begleitung, aber sicher werden sie vorher ihre eigenen Wege gehen.

Im Erwachsenenalter tritt mehr Abstand zu den eigenen Ansprüchen und wird die Bereitschaft zur radikalen Antwort schwinden. Das mögen wir als Reife interpretieren oder als Resignation. Es ist gar beides.

Einer, dem dieses Machtwort zum Schicksalswort wurde, machte sich folgenden Reim darauf:

«Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.»

Wer bin ich? Mit dieser Frage beschäftigt sich Dietrich Bonhoeffer in seiner Zelle des Tegeler Gefängnisses. Er wurde verhaftet als Komplize des Widerstands gegen Hitler. Seine Verflechtung in den Kreis derjenigen, die Hitler umbringen lassen wollten, blieb zwar zunächst unbekannt, auch nach dem Attentat im Juli 1944. Doch seine Freunde waren ebenfalls verhaftet. Ein falsches Wort hätte sie treffen können, oder ihn. Als durch Nachforschungen ein umfangreiches Anti-Hitler Archiv gefunden wurde, war klar, dass auch Bonhoeffer zu den Verschwörern gehörte. Und so wurde er noch in den letzten Wochen des Kriegs 1945 hingerichtet. Die Angst in dem Gedicht Wer bin ich? spiegelt diese unsichere Lage zwischen Hoffen auf einen gelingenden Umsturz und Bangen auf Verrat und Entdeckung wider. Bonhoeffers besondere Nähe zu Menschen, die durch nationalsozialistische Gesetze als Juden verfolgt und bedroht wurden, seine Zwillingsschwester und Schwager und sein Freund Hildebrandt im englischen Exil, ließ ihn schon von daher die eindeutige Haltung der evangelischen bekennenden Kirche zum verfolgten Volk der Juden vermissen. Bonhoeffer fühlte sich mitverantwortlich. Ein frühes Einlenken der Engländer hatte er schon aus seiner Arbeit als Spion heraus nicht erreichen können. Der Krieg war Realität. Die Bomben trafen auch die nähere Umgebung des Tegeler Gefängnisses. Für die Gefangenen gab es keinen Luftschutzbunker. Sie waren dem Risiko des Bombeneinschlags schutzlos ausgeliefert. Es gab Verletzte, um die sich Dietrich Bonhoeffer mit kümmerte. Er fühlte sich ein wenig als Seelsorger der Mitgefangenen. Doch dazu die Unfreiheit des Gefängnisses, gefangen wie ein Vogel im Käfig. Möglicherweise deutete er den auch ihn spürbar erfassenden Bombenkrieg aus Vorboten des bereits verlorenen Krieges.

«Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?»

Das geschlagene Heer vor dem schon gewonnenen Sieg. So klingt das österliche Halleluja in der Gefängniszelle. Und wenige Wochen später, kurz vor der Kapitulation des Naziregimes, bringen sie ihn um, erhängen ihn vor dem schon verlorenen Krieg.

Ein letztes Bild aus dem Psalm steigt auf. Die hüpfenden Berge und Hügel. Der Dichter des Psalms vergleicht sie mit seiner Nomadenwelt. Widder und Gizzis von Ziegen und Schafen, wenn sich eine Herde über die unebene Steppe in Bewegung setzt, hüpfen und springen wie ein schäumender Bach. Wie eingefrorene Wellen eines paläozänischen Meeres liegen die Gesteinsschichten übereinander. Wer einmal im Sinai herumreisen konnte, hat dieses unglaubliche Naturschauspiel gesehen und wird es nicht mehr vergessen. Was sich in unseren Alpen an manchen freiliegenden Felswänden abzeichnet, die Faltung des Gebirges, das ist dort im ganz ohne Vegetation wie Muskeln ohne Haut sichtbar zutage liegenden Faltengebirge überall und in allen Farben zu erleben. Die Zeit dehnt sich von unserer alltäglichen menschlichen zivilisatorischen Zeitrechnung in nur noch als göttlich zu begreifende Ausmasse. In diesen Ewigkeiten schlagen sie tektonische Wellen, beginnt die Erde zu tanzen vor dem HERRN. Schwindet die Frage nach mir und meinem Schicksal zu ihrer wirklichen Grösse.

«Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!»
Amen.

Pfr. Roland Diethelm

 

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