Predigt zum neuen KUW- und Schuljahr vom 14. August 2022

Psalm 139
Für den Chormeister. Von David. Ein Psalm.
HERR, du hast mich erforscht, und du kennst mich.
2 Ob ich sitze oder stehe, du weisst es,
du verstehst meine Gedanken von fern.
3 Ob ich gehe oder liege, du hast es bemessen,
und mit allen meinen Wegen bist du vertraut (bewandert).
4 Kein Wort (Raunen) ist auf meiner Zunge,
das du, HERR, nicht ganz und gar kennst.
5 Hinten und vorne hältst du mich umschlossen,
und deine Hand hast du auf mich gelegt.
6 Zu wunderbar ist es für mich, dies zu erkennen,
zu hoch, ich kann es nicht fassen.
7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist
und wohin fliehen vor deinem Angesicht?
8 Stiege ich hinauf zum Himmel, du bist dort,
und schlüge ich mein Lager auf im Totenreich, sieh, du bist da.
9 Nähme ich die Flügel der Morgenröte
und liesse mich nieder am äussersten Ende des Meeres,
10 auch dort würde deine Hand mich leiten
und deine Rechte mich fassen.
11 Und spräche ich: Finsternis breche über mich herein,
und Nacht sei das Licht um mich her,
12 so wäre auch die Finsternis nicht finster für dich,
und die Nacht wäre licht wie der Tag,
Finsternis wie das Licht.
13 Denn du bist es, der meine Nieren geschaffen,
der mich im Leib meiner Mutter gewoben hat.
14 Ich preise dich, dass ich so herrlich, so wunderbar geschaffen bin;
wunderbar sind deine Werke,
meine Seele weiss dies wohl.
15 Mein Gebein (Kern) war dir nicht verborgen (verhohlen),
als ich im Dunkeln (im Verborgenen) gemacht wurde,
kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde.
16 Noch bevor ich geboren war (noch von meinem Knäuel), sahen mich deine Augen,
in deinem Buch war alles verzeichnet,
die Tage waren schon geformt,
als noch keiner von ihnen da war.
17 Mir aber, wie schwer sind mir deine Gedanken, Gott,
wie gewaltig ist ihre Zahl.
18 Wollte ich sie zählen (buchen), es wären mehr als der Sand,
wache ich auf, ist mein Sinn noch bei dir.
19 Wolltest du, Gott, doch den Frevler töten!
Ihr Mörder, weicht von mir.
20 Sie sprechen von dir voller Tücke (be-sprechen, be-schwören dich mit Tücke),
es erheben sich deine Feinde im Wahn (deine Feinde, sie heben dich ins Wahnhafte hinauf).
21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,
sollten mich nicht ekeln, die sich gegen dich auflehnen?
22 Ich hasse sie mit glühendem Hass,
auch mir sind sie zu Feinden geworden.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz,
prüfe mich und erkenne meine Gedanken.
24 Sieh, ob ein gottloser Weg mich verführt,
und leite mich auf ewigem Weg.

Prüfe mich! Prüfe mich und erkenne meine Gedanken. Das ist das Stichwort für viele unter uns. Prüfen und Schule – das ist für die meisten wie Amen und Kirche. Ihr Erstklässler werdet das erfahren. Heute eher sanft und langsam. Aber früher oder später entscheiden Prüfungen über euren Schul- und Lebensweg. Prüfen gehört zur Schule – oder ist es gerade Last und gar Fluch unserer Pädagogik, dass wir meinen, nur eine geprüfte Kompetenz sei eine echte? „Prüfe und benote!“ sagt das System. David fordert Gott auf: Prüfe mich – und erkenne mein Herz, meine verborgenen Gedanken, die Motive meines Handelns.

Prüfen, nicht welche Note ich verdiene, sondern prüfen, wer ich bin.

Ich sass mit meiner kleinen klugen Tochter am zMorgetisch – die andern waren bereits aufgebrochen und ich half ihr noch, all das zu essen, was sie sich am Buffet geholt hatte. Da fragte sie mich unvermittelt: „Papa, glaubst du an Gott?“ Ihr könnt euch mein Gesicht vorstellen: diese Mischung aus Schreck und Freude. Fragt man einen Pfarrer, ob er an Gott glaube? Steilvorlage für ein Bekenntnis oder eine Unterweisung – und zugleich die bittere Erkenntnis: nicht einmal die eigene Tochter hält das für fraglos gegeben. Ich begann mich zu prüfen. Hatte sie bemerkt, dass ich in den Ferien auch Ferien von meinem täglichen Gebet gemacht hatte? Dass ich religiös etwas faul geworden war? Oder war die Religionskritik des Ältesten bei ihr angekommen. Für ihn ist Jesus der. Welcher Waffen und Wehr ablehnt, auch die Selbstverteidigung.

Ich gab mir einen Ruck und sagte: „Ja, das tue ich, ich glaube an Gott. Warum fragst du das?“ Sie antwortet: „Weisst du, das sieht man ja nicht.“ Glauben sieht man nicht. Religiöse Handlungen kann man sehen, solange und soweit sie äusserlich sind. Die Grundhandlung, das Glauben, bleibt etwas Verborgenes. Das hatte sie erkannt. Nicht nur bei andern sehen wir das Glauben nicht. Auch bei mir selbst sehe ich es nicht. Ob ich wirklich glaube. Der kleine tiefsinnige Dialog am Frühstückstisch ist der Schlüssel zum 139ten Psalm. Der Psalmdichter kommt Gott auf die Spur. Und damit sich selbst beim Glauben. Gott ist keine entfernte objektive Wahrheit. Er ist bei mir am Werk, am Tun. Diesem geht der biblische König David nach und betrachtet sein eigenes Leben und wie Gott darin am Werk ist, schon immer war und ich das gleichsam im Rückspiegel erkennen kann.

Prüfen, nicht welche Note ich verdiene, sondern prüfen, wer ich bin.

Liebe Gemeinde, im 139. Psalm geht einer dem verborgenen Tun seines Schöpfers an sich selbst nach und erstaunt, dass Gott glauben sich selbst erkennen bedeutet – und umgekehrt: sich selbst erkennen glauben. Er wertet und benotet sein Lebenswerk gerade nicht. Er verdankt sich ganz einer höheren Macht, einem vorausgehenden Willen, erkennt sich als von Gott erkannt, schon immer und unter allen Umständen.

Man hat gesagt, Gott sei mir näher als mein Unterhemd, mein Pyjama. Aber das ist viel zu wenig von Gottes Nähe gedacht. Näher als meine Halsschlagader sei mir Gott. Das trifft schon viel besser zu, was David hier besingt und was wir von Gott zu sagen haben. Näher als meine Halsschlagader sei mir Gott – das steht übrigens im Koran. Und ich finde, er trifft die Pointe unserer Bibel damit. Der Gott, der mir näher ist als ich mir selber bin. Als ich mir selber sein kann. Als mein Denken über mich je sein kann. Ist es nicht ein grossartiges Bild, das uns der Psalm da vor Augen malt?

Lasst mich drei Beobachtungen aus dem reichen Fundus dieses wunderbaren Psalms herausgreifen.

Das Erste, was mich anspricht, ist, dass Gott mich durch und durch kennt – und mich dennoch uneingeschränkt liebt. Für uns Menschen ist das gar keine Selbstverständlichkeit. Wir machen eher die Erfahrung, dass sich andere von uns abwenden, wenn sie uns durchschaut haben. Oder wenn sie tief gesehen haben und meinen, uns nun erkannt zu haben. Ihre Liebe reicht nicht für das, was sie zu sehen bekamen. Wie ganz anders ist Gott! Er kennt mich wirklich bis in mein Innerstes, er kennt jede meiner Gefühlsregungen, jeden meiner Gedanken. Ich bin ein offenes Buch vor ihm. Er sieht meine ganzen Abgründe, alles Verabscheuungswürdige, alle negativen und destruktiven Gefühle und Gedanken, die ich habe. Alles was ich um meines eigenen Vorteils willen gemacht und es vielleicht andern als Engagement verkauft habe. Vor ihm liegen meine Sünden offen da, die ich heimlich tue, damit sie kein anderer Mensch mitbekommt – und Gott, der heilige Gott, der die Sünde zutiefst hasst, wendet sich dennoch nicht von mir ab! Er zieht sich nicht enttäuscht zurück. Er bleibt mir nahe, näher als mein Unterhemd, nein: näher als meine eigene Halsschlagader, näher als ich mir selbst bin. Das ist gewaltig! Vor diesem Gott bin ich deshalb ganz offen und ehrlich, bei ihm brauche ich keine Angst zu haben, dass er sich distanziert, wenn ich schonungslos ehrlich bin. Auch wenn ich Fehler mache, wendet er sich nicht ab. Er durchschaut mich nicht kühl. Je genauer ich seinen Blick auf mir spüre, je grösser erkenne ich seine Liebe zu mir. Viel zu gross ist seine Liebe zu mir, denn ich bin sein Geschöpf.

Das Zweite, was mich anspricht, ist, dass nicht ich Gott halten muss, sondern dass Gott mich hält. Manche Christen meinen, das Entscheidende in ihrer Beziehung zu Gott sei ihr Glaube. Sie meinen, die Grösse oder Tiefe ihres Glaubens sei es, die darüber entscheide, wie gut ihre Beziehung zu Gott sei, und dass sie einmal in den Himmel kämen. Aber das stimmt nicht. Dieser Psalm zeigt uns ganz deutlich, dass es nicht darauf ankommt, dass wir die Hand Gottes halten, sondern dass Gott unsere Hand hält. Gott ist der aktive Teil dieser Beziehung, nicht der Mensch. Natürlich braucht es den Glauben von unserer Seite, wir müssen die Liebe, die Gott uns entgegenbringt, annehmen, die Hand ergreifen, die er uns entgegenstreckt; aber dass diese Verbindung hält, liegt in erster Linie an der unendlich viel stärkeren Hand Gottes und nicht an unserer.

Das Dritte, das mich anspricht, ist die Aussage, dass ich wunderbar gemacht bin. Auf der Kanzel lässt ich das sagen: «Wie wunderbar bin ich gemacht!» Wohl die meisten Menschen haben Mühe damit, sich selber so anzunehmen, sich selber so zu akzeptieren, wie sie sind. Ein Blick in den Spiegel, und viele wissen, wovon ich spreche. Vieles macht uns Mühe an uns selber, einiges passt uns nicht – sei es das Aussehen oder der Charakter. Gott sieht mich als seine wunderbare Schöpfung. Gott hat sich alle Mühe gegeben, als er damals die ersten beiden Menschen schuf. Und er gibt sich bei jedem einzelnen Menschen, der seither zur Welt gekommen ist und noch zur Welt kommen wird, unendlich viel Mühe, ihn zu einem einzigartigen, wunderbaren Individuum zu machen. Vielleicht haben sie sich gewundert, dass David sagt, dass er „unten in der Erde gebildet wurde“. Wörtlich heisst es: als ich ein Knäuel war, so ein Wollknäuel, aus dem ich in der Erdentiefe gewoben wurde. Die Entstehung eines Menschen im Mutterleib ist so etwas wie die Wiederholung der Schöpfung der ersten beiden Menschen (Adam und Eva), die ja aus dem Material des Erdbodens gemacht wurden. Auch wenn wir aus vergänglichem Material gemacht sind, eben Erde, so sind wir deswegen kein Haufen Dreck in Gottes Augen, sondern eine fantastische Schöpfung, ein wunderbares, buntes Gewebe.

„Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“, sagt David zu Gott. Können wir das aus tiefster Überzeugung mitbeten? Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass es mir längst nicht immer gelingt. Aber dann ist mir beim Nachdenken über diese Aussage eine Unterscheidung in den Sinn gekommen, die uns eine Hilfe sein kann, die Unterscheidung von “wunderbar” und “vollkommen”. David dankt Gott dafür, dass er „wunderbar“ gemacht ist, nicht dass er vollkommen gemacht ist. Wir Menschen, und insbesondere wir Christen, streben nach der Vollkommenheit. Das ist uns so, seit wir aus dem Paradies vertrieben wurden, in die Wiege gelegt. Und wenn Gott einmal Himmel und Erde neu machen wird, dann wird diese Sehnsucht nach Vollkommenheit befriedigt sein. Aber bis es so weit ist, müssen wir uns damit abfinden, dass wir nicht vollkommen, nicht perfekt, nicht fehlerlos, nicht schuldlos sind. Das heisst nun aber nicht, dass wir deswegen keine wunderbare Schöpfung wären. David jubelt Gott nicht zu, weil er vollkommen gemacht worden wäre, sondern weil der Schöpfer ihn einzigartig, wunderbar gemacht hat. Ich bin ein Wunder Gottes, Gott freut sich darüber, wer und wie ich bin, er hat mich gemacht. Gott hat mich gemacht, mich gewollt, mit meinen ganzen Gaben und Schwächen, mit meinen Sonnen- und Schattenseiten. Für Gott ist jedes einzelne von uns der schönste Mensch auf Erden. Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als jede Vernunft, bewahre eure Herzen und Gedanken in Jesus Christus. Amen.

Pfr. Roland Diethelm

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