Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Johannes 6,37
Dieser Vers, der von einer ökumenischen Arbeitsgruppe als Jahreslosung ausgesucht wurde, hat mit Corona eine zusätzliche Brisanz erhalten. Immer wieder müssen wir, auch in der Kirche, damit rechnen, abgewiesen zu werden. Viele Veranstaltungen sind nur noch mit Zertifikat möglich, mit Test oder Impfung und Mundschutz. Und bei Gottesdiensten ohne Zertifikat, bei welchen nur 50 Personen zugelassen sind, kann es sein, dass der, welcher als 51. kommt, keinen Einlass mehr erhält.
Abweisung erleben wir aber auch an andern Orten. Junge und Jugendliche müssen manchmal schmerzhaft erfahren, dass sie in einer Gruppe nicht willkommen sind. Vielleicht weil sie nicht dieselben coolen Markenkleider tragen oder Handys besitzen wie die andern oder auch aus völlig uneinsichtigen Gründen. Menschen mit anderer Hautfarbe erleben Misstrauen und Ablehnung. Flüchtlinge werden vor der Grenze von Europa stehen gelassen. Und ältere Menschen, die nicht mehr so digital unterwegs sind, spüren, wie sie ohne Internet und Handy als wie mehr abgehängt werden.
Abgewiesen zu werden ist eine unangenehme, schmerzliche Realität. Trotzdem werden die meisten von uns auch selbst manchmal andere abweisen. Aus Angst, ein Stück unseres bequemen Lebens zu verlieren, teilen zu müssen, unsere Meinung revidieren zu müssen oder warum auch immer.
Auch Jesus hat Ablehnung und Abweisung erfahren. Nicht nur von Herrschenden und Mächtigen, die sich durch seine Lehre bedroht fühlten, sondern auch von seinen eignen Anhängern. Ausgerechnet am Ende des Abschnittes, in welchem Jesus sagt, er weise niemanden ab, heisst es am Schluss: Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht länger mit ihm.
Vermutlich waren sie enttäuscht, weil Jesus keine weiteren Wunder wirkte, sondern „nur“ predigte. Ich nehme an, es war damals ähnlich wie heute: Wenn man keinen direkten Nutzen mehr sieht, wenn man nicht nur erhält, sondern vielleicht auch selbst geben sollte, sieht man keinen Grund mehr, länger dabei zu bleiben. Was bringt einem dann der Glauben, Jesus, die Kirche?
Es ist eine berechtigte Frage, auf die immer wieder Antworten gesucht werden müssen. Eine Antwort gibt uns der Abschnitt der diesjährigen Jahreslosung mit seiner Betonung der Gemeinschaft. Bei Jesus wird niemand abgewiesen. Bei ihm sind alle willkommen, die kommen möchten. Es muss niemand alleine bleiben.
Heute fühlen sich viele Menschen einsam. Man lebt nicht mehr als Grossfamilie zusammen, ist mobil und hat viele Hilfsmittel, die es ermöglichen, dass man selbständig sein und bleiben kann. Und für ein längeres Engagement in einem Verein oder in der Gesellschaft hat man weder Zeit, noch übernimmt man Verantwortung.
Da kann das Angebot von Jesus: Ich weise niemanden ab, bei mir ist Gemeinschaft möglich, attraktiv sein. Unter der Voraussetzung, dass wir als Christus-Anhänger, als Kirche, das auch leben. Aber gerade mit den geltenden Massnahmen ist dies alles andere als einfach. Soll die Kirche, um niemanden abweisen zu müssen, fast ganz auf Veranstaltungen verzichten? Oder versucht man mit den verlangten Vorschriften wenigstens für einen Teil der Bevölkerung weiterhin da zu sein? Es ist ein nicht befriedigend lösbares Dilemma, das sich hoffentlich mit neuen Regeln bald erübrigt.
Von Jesus nicht abgewiesen zu werden ist das eine. Das andere ist die Frage: Wie kommt man überhaupt zu ihm? Was muss man dafür tun, welche Bedingungen erfüllen oder Leistungen erbringen?
Diese Frage würde sich viel weniger stellen, wenn die Jahreslosung den ganzen Vers 37 zitieren würde und nicht nur die zweite Hälfte. Denn in voller Länge lautet er: Alle, die der Vater mir gibt, werden zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Zu Jesus kommen also nicht die, welche besonders stark glauben, viele gute Werke tun oder sonst etwas leisten, sondern die, welche der Vater, Gott, mit Jesus zusammen bringt. Auch wenn wir nicht perfekt sind und oft nicht einmal die eigenen Ansprüche erfüllen, dürfen wir darauf vertrauen, dass wir, wenn wir es ernsthaft wollen, durch die Hilfe und Güte von Gott zu Jesus kommen werden.
Das heisst nicht, dass wir nicht auch selbst gefragt sind. Die Jahreslosung ist einerseits eine Einladung an uns und die Zusage, dass wir nicht abgewiesen werden. Aber sie stellt uns auch die Frage: Versuchen wir dies auch selbst zu leben? Gehen wir auf die zu, welche zu uns kommen und nehmen sie an? Sind wir offen und einladend, als Gemeinde aber auch privat bei uns daheim?
Ich gebe zu, ich bin es nicht immer. Manchmal ist es mir zu mühsam und manchmal mag ich auch einfach nicht. Aber wenn es gelingt, erlebe ich es meistens als Gewinn.
Die Jahreslosung ist für mich eine Einladung, diese Haltung vermehrt zu üben: Zu üben, offen zu sein, andere nicht abzuweisen, auch wenn es mich Überwindung kostet. Und zu üben, dass ich darauf vertrauen kann, dass, auch wenn andere Menschen mich abweisen, ich bei Jesus und Gott willkommen bin, so wie ich bin. Amen.
Gebet
Jesus Christus, danke, dass wir bei dir willkommen sind und nicht Angst haben müssen, abgewiesen oder draussen stehen gelassen zu werden. Obschon du weisst, wie fehleranfällig und oft auch halsstarrig wir Menschen sind und oft nicht nach deinem Willen handeln, steht deine Tür offen. Danke für deine Geduld und Güte.
Wir bitten dich, hilf uns, diese Güte andern Menschen weiter zu geben. Versuchen offen und einladend zu sein für die, welche vor unserer Tür stehen. Schenke uns dazu Kraft und Liebe, jeden Tag neu. Amen. Text: Pamela Wyss