«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.» Predigt zum Pfingstfest am 28. Mai 2023

«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.»
So sollt ihr beten:
Unser Vater im Himmel.
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Das Brot, das wir nötig haben, gib uns heute!
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. (Mt 6,9-13)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem HERRN Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde
Vergebung. Pfingsten wird es, wo Vergebung geschieht. Manchmal dünkt mich, wir verstehen gerade beides gar nicht. Pfingsten und Vergebung sind wie damals bei den Seefahrern Africa und India an den Rändern der bewohnbaren Welt die weissen Flecke auf unserer Landkarte.
Ich will es in aller Kürze versuchen, uns zu skizzieren!
Fangen wir an mit Pfingsten. Unter uns eher noch mit den biblischen Geschichten vertrauten Zeitgenossen kennt man die Begebenheit aus der Lukas-Erzählung, im Übergang vom Lukas-Evangelium zur Apostelgeschichte. Da passiert am fünfzigsten Morgen nach dem Ostermorgen eine wunderliche Geschichte mit Windesbrausen und Flammenzungen. Nicht nur uns aufgeklärten Zuhörerinnen und Zuhörern kommt das reichlich spanisch vor, schon damals spottete die Umwelt in Jerusalem: „da haben die Jesus-Leute wohl schon beim Frühschoppen überbordet!“

Man muss wissen, dass der fünfzigste Tag nach Ostern im Judentum ein bedeutungsvoller Festtag war, fast gleich bedeutsam und feierlich wie Pessach, das jüdische Osterfest. Schawuot – Sabbate oder Wochenfest genannt, feierten sie sieben Wochen, also am fünfzigsten Tag nach dem Pessachfest ein weiteres Fest. Dieses ebenso ein Pilgerfest wie das andere, beides ursprünglich Erntedankfeste, zuerst für den Winterweizen, dann für den Sommerweizen, die eine Aussaat vor dem Winterregen ausgebracht, die andere nach dessen Fluten, darum reiften die Felder mit sieben Wochen Unterschied und Zeitverzögerung.
Beides nicht nur Pilgerfeste mit Massen von Menschen aus dem ganzen Erdkreis, Juden mit verschiedensten Muttersprachen und Traditionen vereint in der heiligen Stadt und dem Tempel auf dem Zionsberg, beides auch Feiern mit Erinnerung an die grossen Traditionen des mosaischen Glaubens: den Auszug aus Ägypten in die Freiheit und die Übergabe der Tora an das Volk am Sinai in der Wüste. Mit den beiden Festen erinnern sich bis heute die Juden weltweit an die beiden zentralen Glaubenssätze und Glaubensschätze, die sie mit ihrem Gott Adonaj verbinden.
Befreiung von fremder Herrschaft und Übernahme eines göttlichen Rechts, frei vom Pharao und Gott unterstellt. Souveränität und Selbstverpflichtung. Freiheit und Gesetz.
Beide Feste dauerten jeweils eine ganze Woche. Beide Feste feierten die Jüngerinnen und Jünger des Nazareners genauso wie alle ihre jüdischen Zeitgenossen. Beide Feste standen nicht nur in der Geschichte Israels für Ereignisse des Heils und der Gnade Gottes. An beiden Festen feierten auch die Christen sehr bald zwei herausragende Ereignisse ihrer Geschichte mit Gott und seinem Gesalbten Jesus. Die Auferweckung von den Toten und die Ausgiessung heiligen Geistes über das Volk. Beides führt uns mitten in das Zentrum des Glaubens. Jesus war gefoltert und ermordet, von den Autoritäten seiner Zeit verachtet und entwertet, aber vom Gott Israels als Sohn angenommen und auf seinen eigenen himmlischen Thron gesetzt.
Beide Ereignisse sind Glaubenssätze. Wenn ich sie ernst nehme, rechne ich damit, dass die gewöhnliche Weltgeschichte an ihr Ende gekommen ist. Auferstehung von Toten und Ausgiessung von Geist passen nicht mehr in die Zusammenhänge profaner Ereignisse. Sie stehen ausserhalb, es handelt sich um Ekstase. Endzeit ist abgebrochen, ein Hauch von Jenseits weht uns an.
Dazu ein zweites. Aus der Pfingstmusik weht uns eine unglaubliche Ekstase entgegen. Heiliger Geist ist eben keine Zimmerlinde. Was die Berichte bildhaft beschreiben, heisst übersetzt: hier brechen endzeitliche Ereignisse in unsere Welt ein. Am Pfingstfest verstehen sie einander wieder, die Pilger aus allen Ländern und Sprachen. Babylon ist überwunden. Oder wie es der Prophet Joel voraussagte: wenn Gott zum Endgericht ansetzt, werden Träume und Ekstase die alte Gesellschaftsordnung durcheinander wirbeln. Alte und Junge, Noble und Einfaches Volk, Männer und Frauen – Gottes Geist geht quer Beet. Ekstatisch und eruptiv. Unverfügbar und unvorhersehbar, unplanbar und unberechenbar. Das sei an Pfingsten angebrochen. Was gestern noch für unmöglich galt, ist heute schon normal und was heute nicht wegzudenken ist morgen leer. Das ist Pfingsten.
Und nun fügen wir darin die „Vergebung“ ein. Vergebung hebt Schuld auf. Und Schuld hilft uns Menschen am stärksten, andere zu verpflichten. Er ist mir noch etwas schuldig. Ich kann damit rechnen, noch einen Dienst zugute zu haben. Schuld kittet die Beziehungen in unserer menschlichen Gesellschaft fest zusammen. Wir haben Rechte aneinander, Recht aufeinander, Schuld ordnet mich dem andern zu, ordnet den andern mir zu. Schuld hilft uns Menschen am stärksten, andere zu verpflichten – ausser der Liebe. In der Liebe tue ich das freiwillig und gerne, wozu mich Schuld gebunden und in die Pflicht genommen hätte. Und was wenn sich plötzlich Bindung aus Schuld in Liebe verwandelt? Vielleicht weil etwas passiert ist, das mir gar nichts anderes mehr offen lässt? Etwas passiert ist, das meine Schuld aufgehoben hat, die Ordnung der Welt für einen Moment aus den Angeln gehoben und die Augen für die wahre Bindungsenergie zwischen uns Menschen hat aufblitzen lassen?
Die Christinnen und Christinnen lebten tatsächlich in der Ekstase der Liebe. Ihnen war der Gott Israels begegnet und hatte alle Bindungen aus Schuld aufgehoben. Die Botschaft vom Kreuz liess nur noch die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen gelten. „Wär er nicht erstanden, die Welt sie wär vergangen,“ singen sie seither. Und manchmal leben sie auch so. Dann leben sie in der Ekstase der Liebe, unter dem ausgegossenen heiligen Geist. Dann sind auch sie nicht berechnend und binden einander nicht in gegenseitiger Schuld.
Darum lautet die fünfte Bitte des Unser Vater Gebets auch „wie auch wir vergeben (haben) unsern Schuldigern“. Sie hat zwei Teile, zwei Sätze. Meistens finden die Ausleger die erste Bitte edel – Gott um Vergebung zu bitten ist grossmütig gegenüber Gott und so etwas zu tun passt zu einem edeln Gott.
Und der zweite Satz, der Vergleich, berührt die Ausleger peinlich. Braucht Gott ein Argument, um generös zu sein? Braucht Gott im Himmel meine Aufmunterung, es mir, es uns gleich zu tun? Doch wohl nicht!
Peinlich auch, weil, wer solches sagt, sich einzubilden scheint, tatsächlich „Vergebung zu können“! Was für ein arroganter Frömmling! Steht es denn nicht Gott allein zu, vergeben zu können?
Aber genau so muss es heissen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben und darum die Schuld zwischen uns weg ist.
Der Evangelist Johannes lässt in seiner Pfingstgeschichte alles Wunderhafte, Äusserliche weg. Keine Flammen, kein Brausen, keine Zungen und keine fremden Sprachen. Nur der Auferstandene, der seinen Jüngerinnen und Jüngern gegenübertritt und sie anhaucht. Anbläst. „Nehmt den heiligen Geist!“ Nehmt die Vergebung der Schulden!
Nun denkt ihr vielleicht: „Was erzählt uns dieser Roland Diethelm da für eine sonderbare Geschichte, kurz bevor er geht! Der verwechselt doch was. Wenn wir Gott um Vergebung bitten, dann – na dann unseretwegen – hat das wohl seine Richtigkeit, denn kein Mensch ist ohne Fehler. Aber den zweiten Satz, den „wie auch wir vergeben haben unsern Schuldigern“, den lassen wir mal gut sein. Ekstatische Liebe gab es vielleicht unter den ersten Christen, aber doch nicht mehr heute, nicht hier im Berner Oberaargau und nicht in der wohlverwalteten Gemeinde Wangen an der Aare! Einander zu vergeben lassen wir besser Privatsache sein. Johannes spricht nicht von Pfingsten und so geht es auch nicht um den Heiligen Geist, der über dem ganzen Volk ausgegossen würde.“
Nun denn. Ich habe Johannes Calvin zum Zeugen. Calvin erörtert sogar, ob in der christlichen Kirche nicht zwingend ein drittes Sakrament der Vergebung, eine evangelische Beichte einzuführen wäre. Das Anblasen. Denn wie für Taufe und Abendmahl gibt es sowohl einen klaren Auftrag aus dem Mund von Jesus als auch ein festes Zeichen wie Wasser und Brot und Wein: das Anblasen.
Keine Sorge! Ich werde das nicht mehr anreissen und versuchen einzuführen.
Was aber was, wenn hier plötzlich die Ekstase der Liebe regierte? Unsere Dörfer, unser Städtli haben eine reiche Geschichte, aber sie ist auch gezeichnet von dunklen Kapiteln. Die Verdingkinder, die einst in unseren Gemeinden lebten und unter schwierigsten Umständen aufwuchsen, haben unschuldig viel Leid erfahren. Die Bauern haben mit harter Arbeit und Entbehrungen das Land bestellt, doch nicht immer war ihr Einsatz angemessen gewürdigt. Die armen Arbeiterinnen im Textilgewerbe haben unter unmenschlichen Bedingungen gearbeitet, um ihre Familien zu ernähren, ohne die Anerkennung und den Respekt zu erhalten, den sie verdienten.
Nicht ich, sondern Pfingsten steht vor euch, um zu sagen: Es ist an der Zeit, die Vergangenheit anzuerkennen, die Fehler und Unrecht zu benennen und uns gemeinsam auf den Weg der Vergebung zu begeben. Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene zu vergessen oder zu verleugnen. Im Gegenteil, es erfordert Mut, Verantwortung zu übernehmen und sich mit den Schattenseiten unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Aber Vergebung bedeutet auch, den ersten Schritt zur Heilung zu gehen und die Möglichkeit zu schaffen, dass sich Wunden schliessen können. Die Vergangenheit mag uns belasten, aber sie darf uns nicht lähmen.
Wir haben die Macht, Veränderungen herbeizuführen und das Erbe unserer Vorfahren in eine positive Richtung zu lenken. Indem wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen und Vergebung praktizieren, geben wir nicht nur denjenigen eine Stimme, die zu lange im Schatten standen, sondern wir geben auch uns selbst die Möglichkeit zu wachsen und zu heilen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen in Jesus Christus! Amen.
Pfr. Roland Diethelm

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