“Das Nuuschi Gottes.” Predigt vom 12. März 2023

Predigt in der Reihe “Orgel und Kanzel beten” mit der Predigtreihe zum Unser Vater

So sollt ihr beten:
Unser Vater im Himmel.
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Das Brot, das wir nötig haben, gib uns heute!
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen. (Mt 6,9-13)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem HERRN Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

In den drei ersten Bitten handelt es sich um die Ehre Gottes; damit beginnt das Gebet, welches wir nach seiner Anrede «Unser Vater» nennen und von dem Jesus seinen Jüngern in einzigartiger Weise direkt geboten hat: «Wenn ihr betet, so sollt ihr auf diese Weise, mit diesen Worten beten.»

«So ist es uns erlaubt, ja sogar geboten, uns für die Sache Gottes zu interessieren, zu beten, dass diese Sache Gottes – sein Name, sein Reich, sein Wille – siegreich werde, dass sie zu ihrer Vollendung gelange. In Jesus Christus hat sich Gott sich als ein Gott geoffenbart, der, obwohl er vollkommen frei und ganz sich selber genug ist, dennoch nicht allein sein will. Er will nicht ohne den Menschen handeln, existieren, leben, sorgen, arbeiten, kämpfen, siegen, regieren und triumphieren. Er will also nicht, dass seine Sache allein die seinige sei; er will, dass sie auch die Sache des Menschen werden,» schrieb der Theologe und Pfarrer Karl Barth.
«Selbst wenn es Menschen ohne Gott gibt, so gibt es doch auf keinen Fall im christlichen Sinne Gott ohne Menschen. Gott ist mit uns. Er erlaubt uns, er gebietet uns, für das Gelingen seiner Sache zu beten. Gott lädt uns ein, dass wir uns seinen Absichten und seiner Tätigkeit anschliessen. Alles weitere hängt davon ab, ob wir uns wirklich seiner Sache anschliessen. Alles, was wir in unseren Bitten und Gebeten vor Gott bringen, setzt voraus, dass wir bitten, an der Sache Gottes Anteil zu bekommen. Wer immer kein Interesse an der Sache Gottes hätte, könnte auch weder um Vergebung seiner Sünden noch um das für den Tag nötige Brot beten.»

Dein Name werde geheiligt! Der Name Gottes ist das in der geschöpflichen Welt sichtbare Wesen des unsichtbaren Gottes. Die Schöpfung – ganz und gar nicht Gott – wird der Schauplatz der Herrlichkeit Gottes. Alles in ihr geschieht sogar ganz und gar, und letztendlich zur höheren Ehre Gottes und sonst gar nicht.
Die Heiligung des Namens Gottes bedeutet für uns Menschen: Gott geht in ungeheure Distanz zu uns und unserer Welt. Gott spricht über uns und unsere Welt das Urteil. Nein! Unheilig ist diese Welt, unheilig seid ihr! Das, was ihr hier veranstaltet, das ist nicht die Heiligung meines Namens.

Und wisst ihr etwas? Ich brauche gerade in diesen Tagen diese Gewissheit: «Nein, das, was ihr hier veranstaltet, was ihr aus dieser Welt gemacht habt, das ist nicht die Heiligung meines Namens, das ist in grösstmöglicher Distanz zu Gott.»
Dafür steht doch Religion ein: Diese unendliche Distanz zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen, dem Himmel und dieser Erde zu markieren.

Täglich treffen die Todesfallmeldungen ein, die Anzahl abgefeuerter Missile, die Drohnen aus den Vorhöfen des Teufels und die Überschallraketen aus den Hightech-Essen des Bösen, dann die Relativierung durch die Anzahl der von der Flugabwehr erwischten Geschosse und zuletzt die Zahl der zivilen Opfer, manchmal mit einer Altersangabe, immer wieder Kinder und sogar Ungeborene darunter.

Ein Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es kam vor ein paar Tagen wieder zum Vorschein zum Jahrestag des Krieges, es wurde aber glaube ich in den ersten Tagen nach dem Kriegsbeginn geschossen. Ein kleiner Junge, so um die sieben, acht Jahre alt, über die Schultern gehängt, es ist wohl seine Mutter, die ihn so trägt. Er lässt sich hängen. Er schaut uns direkt in die Augen. Aus seinen Augen schaut uns eine unendlich grosse Traurigkeit an, alle Energie und Tatkraft ist aus diesem Menschlein verschwunden. Der Junge hat zu viel durchgemacht. Er blickt zurück. In seinem Mund ist etwas, ein Stück Stoff, ein Fetzen, so wie unsere Kinder es auch machen, ein Nuschi, ein Dudu. Es tröstet ihn, dieser Stoffetzen in seinem Mund. In diesem Bild regt sich das Nein Gottes. Was ihr hier veranstaltet, das ist nicht die Heiligung meines Namens. Nein über euch!

Die Heiligung des Namens Gottes bedeutet für uns Menschen: Gott geht in ungeheure Distanz zu uns und unserer Welt.
Ohnmacht hat um sich gegriffen. Eine Zeit lang glaubte ich, die Rüstungsspirale der guten Seite könne sich etwas schneller drehen als die der bösen Mächte. Und so einen raschen Sieg herbeiführen. Nun stecken sie in einem Stellungs- und Abnützungskrieg fest, den nur gewinnt, wer in der Logistik den längeren Atem habe … Worte aus dem Ersten Weltkrieg, aus dem Inferno unserer Zivilisation.

Ohnmacht klammert sich an fernen Hoffnungen fest: Dass dermaleinst ein internationales Strafgericht die Kriegsverbrecher belangen werde. Dass keine Schandtat ungestraft, kein Verbrecher ungeschoren davonkommen werde. Und zugleich verblassen die Todesfallmeldungen der ganz normalen Kriegsführung und der Wahnsinn wird normal. Vielleicht ist ja die Aussicht auf einen Strafgerichtshof so etwas wie die Hoffnung auf die Heiligung des Namens.

O Lamm Gottes, unschuldig /
am Stamm des Kreuzes geschlachtet, /
allzeit erfunden geduldig, /
wiewohl du warest verachtet, /
all Sünd hast du getragen, /
sonst müssten wir verzagen. /
Erbarm dich unser, o Jesu.

Orgel: Johann Sebastian Bach, Choralbearbeitung «O Lamm Gottes unschuldig» BWV 656 in 3 Teilen: erster Teil

Die Heiligung des Namens Gottes bedeutet für uns Menschen: Gott geht in ungeheure Distanz zu uns und unserer Welt.
Die Heiligung des Namens Gottes ist nicht nur ein Akt der Transzendenz, Abgrenzung des Heiligen, der Distanzierung von allem Menschengemachten. Die Heiligung des Namens Gottes ist heilsam. Sie rettet uns und unsere Welt. Die Heiligung seines Namens ist ein Akt in der Heilsgeschichte mit uns Menschen. Darin wurde sie für Gott vor allem eine deszendente Aufgabe, eine absteigende Bewegung. Im Menschengesicht Jesu das Antlitz Gottes zu erkennen, zu ehren, so Seinen Namen zu heiligen. Wir kennen den Namen Gottes, weil die Offenbarung bereits begonnen hat, die Heiligung des Namens bereits angefangen hat und unsere Bitte ermöglicht.

Das Agnus Dei (lateinisch für Lamm Gottes, oder altgriechisch Ἀμνὸς τοῦ Θεοῦ) ist ein seit ältester Zeit im Christentum verbreitetes Symbol für Jesus Christus. Als Osterlamm, mit der Siegesfahne, ist es ein Symbol für den Auferstandenen, Jesus Christus, den Sieger über die Mächte des Todes, die Mächte des Bösen.

Agnus Dei lauten die ersten Worte eines Gebets oder Gesangs der eucharistischen Liturgie:
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.
Vor der Kommunion beten die katholischen Christen: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt.“
In der Abendmahlsliturgie der evangelischen Kirche heissen diese Zeilen: Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser. Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, gib uns deinen Frieden, Amen.

Was bedeutet das genau?
Das Abendmahl Jesu nimmt auf das Pessach-Lamm Bezug, da Jesus in der Nacht vor seiner Hinrichtung mit seinen Jüngern das Pessachmahl hielt. Danach reichte er gemäss der Tradition den Jüngern ungesäuertes Brot und Wein. Dem Auftrag Jesu folgend feiert die Kirche das Pascha-Mysterium in der Eucharistie. „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1 Kor 11)

In der Liturgie ist das Agnus Dei ein an Jesus Christus gerichtetes Gebet gesungen während der Eucharistie beim Brechen des Brotes nach dem Friedensgruss. Der Ruf „Seht, das Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt“ nimmt den Ausruf des Täufer Johannes über Jesus auf, als er ihn am Ufer des Jordan sieht.

Der Evangelist Johannes legt damit dem Täufer einen theologischen Gedanken in den Mund, der sich im ersten christlichen Jahrhundert entwickelt hat. Die Vorstellung vom „Lamm Gottes“ entstammt dem Alten Testament. Das Lamm ist ein Opfertier und wird im Tempel dargebracht. Am bekanntesten sind die Pessah-Lämmer, deren Blut in der Nacht des Auszugs der Israeliten aus Ägypten auf Gebot Gottes hin als Schutzzeichen vor dem Todesengel an den Türpfosten gestrichen wurde.

Auch der Gedanke, dass ein Tier die „Sünde der Welt“ hinwegnimmt, ist sehr alt. Am Fest „Jom Kippur“, dem Tag der Sündenvergebung im Judentum, machte der Hohepriester die Sünden des Volkes Israel bekannt und übertrug sie durch Handauflegen symbolisch auf einen Ziegenbock. Mit dem Vertreiben des Bocks in die Wüste wurden diese Sünden mitverjagt (Levitikus 16), aus der Welt geschafft.

Beide Gedanken werden in neutestamentlicher Zeit auf Jesus übertragen. Er ist das „Lamm Gottes“, das unschuldig geopfert wird. Die Welt wird erlöst „mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel“, wie es im ersten Petrusbrief (1,19) heisst. Er gibt sein Leben hin, sein Blut. Dies schützt die zu Tod und Verdammnis bestimmte Welt vor ihrem sicheren Untergang.
Und in der Offenbarung des Johannes nimmt die Vorstellung des Lammes, kosmische Züge an (zum Beispiel: Offenbarung 5).

Das Lamm ist identisch mit Jesus Christus, dem Auferstandenen Gekreuzigten. Gleichzeitig wird dieses unschuldige Opferlamm zum Sündenbock, das ein für alle Mal und so bis heute die Sünde der Welt hinwegnimmt, aufhebt, sühnt. Sein Blut schützt uns vor dem Untergang.

Die Gemeinde singt oder betet das „Lamm Gottes“, während der Priester am Altar die Hostie in Stücke bricht –in viele Stücke, nicht nur in zwei. Das zeigt symbolisch: Das Lamm Gottes hat sich am Kreuz zerbrechen lassen für das Heil der Welt. Und daran haben wir in der Kommunion Anteil. «Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis. (Lk 22,19)»

O Lamm Gottes, unschuldig /
am Stamm des Kreuzes geschlachtet, /
allzeit erfunden geduldig, /
wiewohl du warest verachtet, /
all Sünd hast du getragen, /
sonst müssten wir verzagen. /
Erbarm dich unser, o Jesu.

Orgel: Johann Sebastian Bach, Choralbearbeitung «O Lamm Gottes unschuldig» BWV 656 in 3 Teilen: zweiter Teil

Geheiligt hat Gott seinen Namen, indem er mitgegangen ist in den Schandtot dieses Justizmordes, Jesus, königlich schweigend, gemartert und entrechtet, gefoltert und entwertet am Holz, dort wollte Gott seinem Namen seine Ehre erweisen.

Die Heiligung des Namens Gottes bedeutet für uns Menschen: Gott geht in ungeheure Distanz zu uns und unserer Welt. So grossartig auch alle Versuche sind, diese Distanz in der Ferne von uns Sündern zu sehen – der Vater Jesu Christi hat eine noch viel radikalere Distanz gewählt. Er lehnt die gefallene Welt nicht ab, er stösst sie nicht weg. Er nimmt sie an. Trotz allem. Er trägt die Sünd’ der Welt.

Der Junge über der Schulter seiner Mutter, getröstet nur noch durch das Dudu in seinem Mund, dieser Stofffetzen kennt seine ganze Geschichte. Unansehnlich und abgenutzt, wie der Gekreuzigte. Es gäbe tausend schönere Stoffe und keiner kann den Jungen trösten als allein dieser in seinem Munde. Es gibt Millionen und Milliarden Menschen, und Gott hat sich diesen einen ausgesucht und sein Herz an ihn gehängt, von ihm lässt er sich über die verirrte Welt trösten, mit ihm kennt er seine Geschichte und erinnert sich an den Grund, warum er an ihr hängt. Jesus, Gottes Dudu, das bedeutet: Lamm Gottes.

Wir haben den zweiten Teil der Choralbearbeitung gehört. Vom Text her ist es die gleiche Strophe, wörtlich wiederholt. Auch die Orgelbearbeitung ist ein Spiel mit Wiederholungen und Unterbrechungen. Sie nimmt damit die Struktur des Chorals selbst zum Vorbild. Erst in der dritten Wiederholung wird die letzte Zeile geändert. Anstelle einer Bitte um Erbarmen (“Erbarm dich unser, o Jesu”) steht eine Bitte um Frieden (“Gib deinen Frieden, o Jesu”).

Dreimal die gleiche Melodie – und trotzdem ist es nicht dreimal die gleiche Musik. Es geschieht etwas mit der Melodie, dieser Anrufung des Namens Jesu. Nach einer mehrtaktigen Einleitung wird in Bachs Choralbearbeitung die vollständige Melodie, der Cantus firmus, tatsächlich dreimal in langen Noten wiedergegeben: zuerst in der Oberstimme, in der ersten Strophe, dann in der Mittelstimme, in der zweiten Strophe, und schliesslich im Pedal, im Bass, in der dritten Strophe. Die Kernaussage sinkt von oben nach unten hinunter, erleidet die Deszendenz in der Musik. Die Musik folgt dem Herabsteigen Gottes. Die Melodie kommt aber zugleich zum Grund der Musik, zum Bass.

In den ersten beiden Strophen schafft Bach durch dieses Wiederholungsmuster ein falsches Gefühl von musikalischer Sicherheit. Denn wenn es scheint, als sei das Ende in Sicht, wirft er in der dritten Strophe all unsere Erwartungen in jeder Hinsicht um. Plötzlich wird das Pedal eingesetzt, der Rhythmus ändert sich, und wenn die Worte des Chorals zum dritten Mal davon erzählen, wie die Menschheit ohne Christus verzweifeln würde, ändert sich das Tempo auf dem Wort “verzweifeln” in einer intensiven chromatischen Passage noch einmal. Ist es die Kreuzigung? Ist es etwas in Gottes innerstem Wesen? Gott heiligt seinen Namen selbst. Durch unerhörte Wendungen und musikalische Verrenkungen findet die Musik auf wunderbare Weise zurück zur Heiterkeit: sie kehrt für die letzte Zeile, in der Bitte nach Frieden, zum Anfangsrhythmus zurück. In der Bitte um den Frieden hat sie den Frieden schon gefunden.

Orgel: Johann Sebastian Bach, Choralbearbeitung «O Lamm Gottes unschuldig» BWV 656 in 3 Teilen: dritter Teil

Diese Welt, in der wir leben, und unser eigenes Leben mit seinen Grenzen, seinen Hindernissen, Schwierigkeiten, Verwicklungen und mit denen unserer Nächsten: sie bleibt für uns nicht ein völliges Rätsel, ein Nichts, ein Schauplatz sinnloser Gewalten und Mächte. Sie ist der Schauplatz der Ehre Gottes. Sie ist voll der Zeichen seiner Gegenwart. Lasse ich die Sache Gottes in meinem Leben zum Zuge kommen? Stelle ich mein Leben in den Dienst dieses himmlischen Vaters Jesu? Habe ich den Mut, in der Welt trotz allem den Schauplatz der Ehre Gottes zu erkennen? Ihr Geheimnis spricht dann auch zu dir: Wär’ er nicht erstanden, so wär’ die Welt vergangen. Seit dass er erstanden ist, so freut ich alles, was da ist. Herr, erbarm dich.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen in Jesus Christus! Amen.
Pfr. Roland Diethelm

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