Interview mit Wangener Gastfamilie
Marina Wirthner und Daniel Luterbacher haben seit dem 22. März ihre Türe geöffnet für Menschen auf der Flucht.
Liebe Marina, ihr beherbergt Liubov mit ihrer erwachsenen Tochter Iryna aus der Ukraine, wie kam es dazu?
Zwei Tage nach Kriegsbeginn und den schrecklichen Berichterstattungen aus der Ukraine war für Dani und mich klar, dass wir in irgendeiner Art und Weise helfen möchten. So haben wir uns als Gastfamilie bei www.ukraine.campax.org gemeldet – einer Organisation, die zusammen mit der Schweizer Flüchtlingshilfe Schutz für Kriegsgeflüchtete bietet.
Haben die Frauen eine eigene Wohnung bei euch oder wie sieht die gelebte Gastfreundschaft bei euch konkret aus?
Als wir vor etwas mehr als 10 Jahren unser Einfamilienhaus bauen durften, richteten wir damals für meine Walliser Familie ein Gästezimmer ein. Und dieses Gästezimmer mit Bettsofa steht nun Liubov und Iryna zur Verfügung. Zurzeit teilen wir uns das Bad. Dank grossartiger Unterstützung von lokalen Unternehmen wird in den nächsten Tag aber im Keller eine zusätzliche Dusche montiert, damit Iryna und Liubov in Zukunft im OG ihr eigenes Bad zur Verfügung haben.
Wie verständigt ihr euch untereinander?
Beide Frauen sprechen ukrainisch. Iryna, die 39-jährige Tochter spricht zusätzlich Englisch und so können wir uns mit ihr in Englisch unterhalten. Iryna ist dann quasi die Übersetzerin im Haus, wenn wir alle gemeinsam am Tisch sitzen. Wenn wir direkt mit Liubov sprechen, benützen wir dafür oft den Google Translator, der sehr gut funktioniert – aber oft werden auch Hände und Füsse zur Kommunikation benutzt 😊 Beide Frauen sind dran, Deutsch zu lernen.
Ein solches Engagement braucht ein Verlassen der Komfortzone. Wo werdet ihr herausgefordert, wo erlebt ihr eine Bereicherung?
Die Situation, plötzlich mit fremden Menschen gemeinsam unter einem Dach zu leben, geht im Moment einfacher, als dass wir uns das hätten vorstellen können. Durch die enorme Rücksichtnahme der beiden Frauen haben Dani und ich nach wie vor genügend Privatsphäre und fühlen uns wohl. Auch Iryna und Liubov haben dank dem Gästezimmer ihr eigenes Rückzugsgebiet. Die grösste Herausforderung jedoch ist die Hilflosigkeit, der wir alle zwischendurch ausgesetzt sind: die Hilflosigkeit, ihren Angehörigen und Freunden, die noch in Kiew und Umgebung sind, nicht helfen zu können.
Was sind eure Erfahrungen mit dem Kriegstrauma, welches die beiden Frauen erlebten?
Wir sehen jeden Tag die Traurigkeit in ihren Augen – auch wenn wir nicht direkt über den Krieg in ihrer Heimat sprechen. Es sind oft kleine Dinge, die uns dann aufzeigen, was die beiden Frauen in den letzten Wochen durch- und mitgemacht haben: zum Beispiel Fluggeräusche lassen sie zusammenzucken oder Wangener Soldaten werden anders wahrgenommen als von uns. Wir alle können und wollen uns nicht vorstellen, was sie erlebt haben.
Wie sieht eure Mithilfe in bürokratischen und finanziellen Angelegenheiten aus?
Beide Frauen sind offiziell als Flüchtlinge registriert – das geschah bereits bei der Einreise. Letzte Woche haben wir sie begleitet, um sich auf der Gemeinde anzumelden und sind mit ihnen nach Burgdorf gefahren, um dort finanzielle Hilfe zu beantragen. Dani und ich können sie nicht finanziell unterstützen, aber wir können Liubov und Iryna ein sicheres „Zuhause“ und Mahlzeiten bieten.
Konnte euch die Vernetzung Flüchtlingshilfe Wangen an der Aare irgendwo dienen?
a, auf alle Fälle! Dank der Vernetzung Flüchtlingshilfe wussten wir schon früh, dass auch ganz viele andere Personen in Wangen mit ähnlichen Situationen konfrontiert sind. Auch für unsere beiden Frauen ist es wichtig zu wissen, dass sie sich mit ihren Landsleuten treffen und austauschen können.
Wie lange könnt ihr euch vorstellen, die Frauen bei euch zu beherbergen, bis eine andere Unterkunftslösung angebracht ist?
Für uns ist klar: Iryna und Liubov können so lange bei uns wohnen, wie es für sie nötig ist und bis der Wahnsinn in ihrem Land ein Ende findet. Wir haben uns bei Campax für mindestens drei Monate verpflichtet – wir wissen aber alle, dass die Situation in der Ukraine bis dahin kaum gelöst sein wird…
Liebe Marina, vielen herzlichen Dank für eure offene Kommunikation und den wertvollen Einblick in eure unverhoffte Wohngemeinschaft. Wir wünschen euch eine wertvolle und gesegnete Zeit in eurem Miteinander.