Und seine Eltern zogen jedes Jahr zum Passafest nach Jerusalem. Auch als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf, wie es an diesem Fest der Brauch war, und verbrachten die Tage dort. Als sie heimkehrten, da blieb der junge Jesus in Jerusalem zurück, und seine Eltern merkten es nicht. Da sie meinten, er befinde sich unter den Reisenden, gingen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück, um ihn zu suchen.
Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn fanden, wie er im Tempel mitten unter den Lehrern sass und ihnen zuhörte und Fragen stellte. Alle aber, die ihn hörten, waren verblüfft über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, waren sie bestürzt, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Und er sagte zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss? Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er zog mit ihnen hinab, zurück nach Nazaret, und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. (Lk 2,41- 52)
Liebe Gemeinde
Da steht der junge bartlose Mann inmitten einer Schar älterer Herren mit Kaftanen, weissen und grauen Bärten und ehrwürdigen Gewändern. Sein schulterlanges lockiges blondes Haar verrät seine Stellung in dieser Gesellschaft. Er ist der Neue, der von den Weisen zu lernen hat. Er aber steht in der Mitte. Wie viel Erfahrung und Denkarbeit versammelt sich hier um dieses Zentrum der Neugier und Lernbereitschaft! Das Motiv des Zwölfjährigen im Tempel faszinierte viele Maler, Albrecht Dürer beispielsweise. In einem seiner Bilder thront Jesus oben auf einem Sessel, der Kathedra des Lehrers und lehrt aus dem Buch der Bücher. Hier hat der Junge offensichtlich den Platz des gelehrten und lehrenden Meisters eingenommen. In einem anderen Bild hat sich der Junge unter die Väter gemischt und seine und seines Lehrers Hände berühren sich mit sprechender Gestik: sein Zeigefinger weist auf seinen Daumen hin. Der Schriftgelehrte hält den Jungen mit der linken Hand sanft und väterlich am Arm. Seine andere rechte Hand weist auf den Zeigefinger des Jungen. Sein altes faltiges Gesicht trägt eine Alterswarze, die wenigen Haare sind mit einer weissen Kopfbedeckung geschützt. Sein Auge schaut ins Weite zum Tempel hinaus in den Himmel. Er wirkt wie ein Blinder, dem ein Licht aufgegangen ist und dessen Freude unverstellt in sein Gesicht tritt, da er sich nicht vor den anderen Blicken schämt. Er ist wohl einer derjenigen Schriftgelehrten und Ratsherren, die Jesus erkennen und später als Rabbi anerkennen und ihm offen oder heimlich folgen. Ein Josef von Arimathia oder Nikodemus, einer der Lehrer Israels. Oder der greise Simeon, der den Neugeborenen Knaben am achten Tag, am Tage seiner Beschneidung auf seine Arme genommen hatte und sein Bekenntnis sang: «Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.» Oder gar David, der mythische Inbegriff des Königs Israels?
Der zwölfjährige Jesus im Tempel: Was ist an dieser Geschichte so besonders? Es ist die einzige Erzählung aus der Kindheit und Jugend Jesu, die Eingang gefunden hat in die Bibel. Zwischen der Geburt Jesu und seinem ersten Auftreten, als er sich von Johannes dem Täufer taufen lässt, haben wir sonst keine Geschichte mit Einzelheiten über das Leben des jungen Jesus. Das erste hinreichend sichere Datum seines Lebens ist die Taufe Jesu durch Johannes. Da wird er als reifer erwachsener Mann von vielleicht dreissig Jahren geschildert. Das Markusevangelium, das älteste Evangelium, beginnt erst damit. Die Vorgeschichten, die wir im Matthäus- und im Lukasevangelium finden, sind so verschieden, dass man daraus keinen historischen Ablauf rekonstruieren kann. Diese Geschichten haben eine grosse theologische Bedeutung. Sie deuten mit Hilfe von Geburt und Kindheit die Bedeutung des Mannes und seiner Mission. Sie leiten den Weg Jesu inhaltlich ein. Sie werfen ein Licht voraus auf den weiteren Weg Jesu. Wir könnten sie als Überschrift-Geschichten bezeichnen: bei Lukas etwa die Erwählung des jungen Mädchens Maria, die in ihrem Lobgesang – dem Magnifficat – schon ausdrücken kann, wie Gott sich der Armen und Elenden annimmt und die angestammte Rang- und Hackordnung auf den Kopf stellt. «Die Niedrigkeit deiner Magd hast du angesehen und erwählt.» Die Geburt Jesu in der Krippe, in der kleinen Stadt Bethlehem ganz am Rande des römischen Weltreichs. Kaiser Augustus, der für seine Steuerschätzung die Menschen auf die Reise schickt, ahnt nicht, dass er damit dafür sorgt, dass das Jesuskind am richtigen Ort geboren wird, aus dem der von den Propheten versprochene Retter kommen soll: der Stadt Davids, der dem Volk Israel zugesagten unverbrüchlichen Treue Gottes.
Und nun die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Was will sie uns über Jesus sagen? Und was können wir daraus lernen?
Zuerst einmal gliedert diese Geschichte Jesus in die Traditionen seines jüdischen Volkes ein. Zusammen mit der Beschneidung und Namensgebung am achten Tag ist sie eine durch und durch jüdische Sache. Im heutigen Judentum feiert der junge Dreizehnjährige seine Bar Mizwa. Sohn des Gesetzes, Sohn des Gebotes heisst dieser Titel des jungen Mannes, der ab diesem Zeitpunkt seine Verantwortung vor Gott und seinem Gesetz selbst übernimmt und als religionsmündig angesehen wird. In unserem evangelischen Christentum feiern unsere jungen Männer und Frauen mit Sechzehn die Konfirmation. Mit der Beschneidung wird der junge Mensch in den Bund Gottes mit seinem Volk eingegliedert. Mit der Bar-Mizwa übernimmt er die Verantwortung darin. Das Fest besteht aus einer Lesung der Tora in der Synagoge und wird in dieser Form seit dem Hochmittelalter begangen. Schon in der Antike zur Zeit Jesu galt aber der junge Zwölfjährige oder Dreizehnjährige als religionsmündig und strafbar, wenn er Gebote nicht einhielt.
Die Geschichte im Evangelium nach Lukas beschreibt eine ideale jüdische Biographie. Ganz beheimatet im Glauben und Leben seiner Väter und Mütter wächst dieser junge Mann auf. Weisheit und Gnade lagen über ihm und er wuchs darin, heisst es. Jesus ist in einer jüdischen Familie gross geworden, mit all dem, was zu einem intensiven jüdischen Glaubensleben gehörte: Da wurde der Sabbat gefeiert, da befolgte man die dem Mose gegebenen Gebote, da kannte man die Worte der Propheten, da betete man mit den Liedern der Psalmen. Es wurde eifrig gelernt in frommen jüdischen Familien. Dabei sind auch die Erwachsenen gefordert. Im Deuteronomium, dem fünften Buch Mose, wird uns solche eine Lernsituation vorgeführt. Da heisst es: „Wenn dich aber dein Sohn heute oder morgen fragen wird und sagen: Was sind das für Zeugnisse, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat? so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand“ (Dtn 6,20f.). Wenn es in unserer Geschichte heisst: Jesus hörte zu und stellte Fragen, dann wird damit gesagt, dass Jesus auf der Grundlage dessen, was er in seiner Familie gelernt und erfahren hat, von Anfang an das Gespräch gesucht hat, dass er nicht einfach nur gelehrt hat, sondern den Austausch suchte, dass er neugierig war auf das, was die Gesetzeslehrer sagten und dass er sie mit seinem Wissensdurst ins Staunen brachte. Kein Wunder, dass seine Eltern, als sie ihn endlich im Tempel gefunden haben, entsetzt sind, dass sie ihm Vorwürfe machen, weil er sie so in Sorge versetzt hat. Seine Antwort – „Wusstet ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss“ – können sie erst einmal nicht begreifen. Aus der idealen Biographie eines jüdischen Knaben wird die Ablösung von seinen Eltern. Seine Pubertät könnten wir sagen. Sie geht weiter als die Pubertät unserer Kinder und unserer eigenen Biographien. Und doch beginnt sie damit, dass die Eltern nicht verstehen können, wohin die Jungen gehen und was sie ahnen. Der Evangelist Lukas, der uns diese Geschichte überliefert, weiss, dass bei Jesus von Anfang an eine ganz besondere, eine einzigartige Beziehung zu Gott als seinem Vater besteht. Und hier erinnern wir uns an die künstlerische Darstellung Albrecht Dürers, die ich Ihnen beschrieben habe. Die vier Hände, einander haltend und aufeinander weisend. Väterliche und junge Hände. Diese Beziehung von Vater und Sohn sprechen die Hände des Jungen aus. Der Zeigefinger – der Sohn – zeigt auf den Daumen, der Vater. Und der Vater, der Prophet Israels, weist auf den Sohn, der die Erfüllung seiner Hoffnung sein wird.
Jesus – das fragende Kind. Das hält uns einen Spiegel vor: Wie gehen wir selbst mit Kinderfragen um? Nehmen wir sie ernst? Staunen wir über das, was sie wissen wollen? Oder sind wir immer die
Besserwisser? Lassen wir uns auch einmal neugierig und kritisch befragen? Oft wollen sie gerne wissen: Warum lebt ihr so, wie ihr lebt? Wie war das früher für euch? Was habt ihr erfahren? Wie habt ihr euch verhalten? Was habt ihr gelernt? Was ist euch wichtig? Sehen Kinder nicht manches klarer als wir selbst, wenn es um unsere Gewohnheiten, unsere Lebensformen geht? So fragen uns etwa in der Klima-Bewegung junge Menschen unüberhörbar, wie wir uns verhalten, damit wir durch unsere Lebensformen und unser Verhalten die Zukunft unserer Kinder und unserer Erde nicht aufs Spiel setzen.
«Jesus, der lernende Lehrer“. Ich finde, das ist ein ausgezeichneter Titel für diesen Rabbi. Er trifft etwas, das ich immer wieder entdecke, wenn ich Jesus auf seinen Spuren durch die Evangelien folge. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel ist das Anfangsbeispiel dafür, wie Jesus fragend und lernend ein einzigartiger Lehrer wird. Er tritt nicht als fertiger Alleswisser auf. Er kommt als Erwachsener zuerst zu Johannes dem Täufer. Er hört dessen Predigt, mit der er die Menschen im Blick auf das kommende Gericht Gottes zur Busse und Umkehr auffordert. Jesus nimmt das ernst. Er lässt sich von Johannes taufen und stellt sich damit an die Seite derer, die sich von Gott zur Umkehr von unheilvollen Wegen rufen lassen. Aber während Johannes mit einer drohenden Botschaft auftritt, schildert der Evangelist Lukas, wie Jesus mit einer frohen Botschaft auftritt. In der Synagoge von Nazareth schlägt er das Buch vom Propheten Jesaja auf und liest daraus vor: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Dieses Prophetenwort wird zum Leitfaden für Jesu Wirken: Er predigt die Nähe und Liebe Gottes, von der er selbst erfüllt ist, vorrangig zu denen, die diese Liebe besonders brauchen: die Armen, die Blinden, die Zerschlagenen. Wort und Tat sind dabei eine Einheit. Auf diesem Weg kommt Jesus selbst in Situationen, die ihn nötigen, Neues zu lernen. Ein besonderes Beispiel ist, wie Jesus von einer nichtjüdischen, einer heidnischen Frau angefleht wird, ihre von einem Dämon besessene Tochter zu heilen. Jesus lehnt das zunächst ganz schroff ab, weil er sich zuerst zu den Armen seines Volkes Israel gesandt sieht. Er gebraucht das harte Wort: „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen“. Aber dann gewinnt ihn die Frau, indem sie sein Wort aufnimmt und sagt: „Gewiss, Herr. Aber die Hunde unter dem Tisch zehren von den Brosamen der Kinder.“ Jesus ist von diesem verblüffenden Argument, vor allem aber von Grösse des Vertrauens, des Glaubens dieser Frau getroffen und gewonnen. Er heilt die kranke Tochter der Frau – und lernt auf diesem Wege, dass sein Auftrag über die Grenzen seines Volkes hinaus geht. Immer wieder wird Jesu Lehren und Handeln von Gesprächen und Entdeckungen begleitet, und dabei entwickelt er eine besondere Begabung als Erzähler von Gleichnissen, in denen er seine Zuhörerinnen und Zuhörer zeigt, wie unbegrenzt die Liebe Gottes ist.
Der grösste Lernweg Jesu aber ist der Weg, der ihn in das Leiden, in die Erfahrung des Verrates, ja in den Tod hineinführt. Da ist er ganz menschlich, ganz verzagt, wie sein Gebet im Garten Gethsemane zeigt. Er weiss, dass er Gott als seinen Vater auch in dieser äussersten Not anrufen kann so wie schon die Beter der Psalmen. Er steht so an der Seite aller Leidenden, aller derer, die in Ausweglosigkeit geraten, all derer, welche die schreckliche Todeserfahrung machen müssen. Und auf eben diese Erfahrung antwortet Gott mit dem Ostermorgen, mit dem unerwarteten neuen Leben, das das grösste Hoffnungslicht in die Welt setzt und seine Jüngerinnen und Jünger ermutigt und stärkt, seine Botschaft von der unbegrenzten Liebe Gottes weiter zu tragen.
Von Jesus lernen, ja, mit ihm lernen: Können wir auch das? – Jesus als das hörende und fragende Kind, Jesus als der lernende Lehrer! Was heisst das für uns?
Hören, das heisst: nicht alles schon wissen, nicht über alles urteilen, bevor wir gehört haben. Andere nicht überfallen mit dem, was wir immer schon wissen, sondern aufmerken, wahrnehmen, auch staunen über das, was uns in der Welt begegnet, was uns in den anderen Menschen begegnet. Fragen bedeutet, nicht alles selbstverständlich hinnehmen, sondern sich kundig zu machen. Das bedeutet dann aber auch: Lügen Lügen nennen, vertrauenswürdigen Fakten zur Geltung zu helfen. Dafür müssen wir uns gerade in der Corona-Krise stark machen. Wovon Jesus erfüllt war und was er in immer weitere Kreise hinein realisiert hat, ist: die Menschen mit den Augen der Liebe Gottes zu sehen und danach zu handeln.
Am bedeutendsten aber ist der letzte Schritt im Lernen Jesu: sich Gott anzuvertrauen auch in Not und Anfechtung, angesichts von Leiden und Ausweglosigkeiten. Hoffen und Handeln über die Realitäten von Krankheit, Verlassenheit, ja auch über den Tod hinaus. Das lässt uns nicht in Verzagtheit verfallen, auch wenn uns gegenwärtig so viele Ungewissheiten auf der Erde begegnen. Wir stehen bei, ermutigen und trösten, helfen und unterstützen, so wie
wir es können – und wissen uns getragen von der Liebe Gottes, so wie sie in Jesus Mensch geworden ist.
Ob das alles der zwölfjährige Jesus schon geahnt und gewusst hat? Wer weiss! Aber er hat gehört und gefragt, der Anfang eines grossen Lernweges, den er vor und für uns gegangen ist. Die Helligkeit, in die ihn die Künstler in ihren Bildern mitten unter die Gelehrten gestellt haben, drückt aus: Von diesem Kind geht eine grosse Verheissung und Hoffnung für uns alle aus. Amen.
Pfr. Roland Diethelm