“Ich bin der Mann, der das Elend gesehen hat.”

Bericht, Gottesdienste

  

Predigt über das dritte Klagelied des Propheten Jeremia vom 7. März 2021

Das dritte Klagelied

Ich bin der Mann, der das Elend gesehen hat,
das Werk des Stocks seines Zorns.
Mich hat er vertrieben und fortgeführt
in die Finsternis und nicht ins Licht.
Ja, gegen mich wendet er wieder und wieder seine Hand,
jeden Tag.

Mein Fleisch und meine Haut hat er schwinden lassen,
meine Knochen hat er zerbrochen.
Gegen mich hat er gebaut, und mich hat er eingeschlossen
mit Gift und mit Mühsal.
In tiefster Finsternis hat er mich wohnen lassen,
wie jene, die lange schon tot sind.

Er hat mich eingemauert, und ich komme nicht heraus,
mit bronzenen Ketten hat er mich beschwert.
Auch wenn ich schreie und um Hilfe rufe –
er hat sich meinem Gebet verschlossen.
Meinen Weg hat er mit Quadersteinen vermauert,
meine Pfade hat er verdreht.

Ein lauernder Bär ist er für mich,
ein Löwe im Verborgenen.
Meine Wege hat er mit Dornen versperrt,
und er hat mich zerrissen,
übel hat er mich zugerichtet!
Er spannte seinen Bogen und stellte mich auf
wie die Zielscheibe für den Pfeil.

In meine Nieren liess er eindringen
die Söhne seines Köchers.
Für mein ganzes Volk bin ich zum Hohn geworden,
ihr Spottlied für jeden Tag.
Mit bitteren Kräutern hat er mich gesättigt,
mit Wermut hat er meinen Durst gestillt.

Und auf Kies liess er meine Zähne sich zerreiben,
in den Staub trat er mich nieder.
Und aus dem Frieden hast du mich verstossen,
was Glück ist, habe ich vergessen!
Und ich sagte: Verloren ist mein Ruhm
und meine Hoffnung auf den HERRN.

An mein Elend und meine Heimatlosigkeit denken
ist Wermut und Gift.
Ständig denke ich daran,
und tief bin ich gebeugt!
Dies werde ich zurückbringen in mein Herz,
darum werde ich hoffen:

Es sind die Gnadenerweise des HERRN,
dass es nicht ganz und gar zu Ende ist mit uns,
denn sein Erbarmen hat sich nicht erschöpft.
An jedem Morgen ist es neu.
Deine Treue ist gross!
Mein Anteil ist der HERR!, habe ich gesagt.
Darum werde ich auf ihn hoffen.

Der HERR ist gut zu dem, der auf ihn hofft,
zu dem, der nach ihm fragt.
Gut ist es, schweigend zu warten
auf die Rettung durch den HERRN.
Gut ist es für den Mann,
wenn er das Joch in seiner Jugend trägt.

Allein soll er sitzen, und er soll schweigen,
wenn er es ihm auferlegt.
Er tue seinen Mund in den Staub,
vielleicht gibt es Hoffnung!
Er halte dem die Wange hin, der ihn schlägt,
der sich sättigt an der Schmach.

Denn er verstösst nicht für immer,
der Herr.
Vielmehr: Hat er in Kummer gestürzt, dann erbarmt er sich,
wie es der grossen Zahl seiner Gnadenerweise entspricht.
Denn nicht von Herzen hat er erniedrigt
und die Menschen in Kummer gestürzt.

Dass man unter seinen Füssen
alle Gefangenen des Landes zertritt,
dass man das Recht eines Mannes beugt
vor dem Angesicht des Höchsten,
dass man einen Menschen behindert bei seinem Rechtsstreit –
das sollte der Herr nicht sehen?

Wer sollte das sein, der sprach und es geschah,
ohne dass der Herr es geboten hätte?
Kommt nicht aus dem Mund des Höchsten
das Schlimme und das Gute?
Was beklagt sich der Mensch, der lebt,
was beklagt sich ein Mann über seine Sünden?

Lasst uns unsere Wege prüfen und erforschen,
und lasst uns zurückkehren zum HERRN!
Wir erheben unser Herz und unsere Hände
zu Gott im Himmel.
Wir, wir haben uns vergangen und waren widerspenstig,
du, du hast es nicht verziehen.

Du hast dich in Zorn gehüllt und hast uns verfolgt,
du hast uns umgebracht, ohne Mitleid.
In eine Wolke hast du dich gehüllt,
so dass kein Gebet hindurchdrang.
Zu Kehricht und Unrat hast du uns gemacht
inmitten der Völker.

Alle unsere Feinde
haben ihr Maul gegen uns aufgerissen.
Grauen und Grube sind uns zuteilgeworden,
Verheerung und Zusammenbruch.
Bäche stürzen aus meinem Auge
über den Zusammenbruch der Tochter meines Volks.

Mein Auge ergiesst sich und findet keine Ruhe,
es hört und hört nicht auf,
bis der HERR vom Himmel
herabblickt und hinsieht.
Mein Auge schmerzt mich
all der Töchter meiner Stadt wegen.

Gejagt, gejagt wie einen Vogel haben mich
meine Feinde, ohne Grund!
In der Grube wollten sie mein Leben zum Schweigen bringen,
und Steine haben sie auf mich geworfen.
Wasser flutete über mein Haupt,
ich sagte: Ich bin (vom Leben) abgeschnitten!

Ich rief deinen Namen, HERR,
von tief unten aus der Grube.
Du hast meine Stimme gehört,
verschliesse nicht dein Ohr,
zu meiner Erleichterung, zu meiner Rettung!
Am Tag, da ich dich rief, hast du dich genaht,
du sprachst: Fürchte dich nicht.

Du, Herr, hast um mich die Rechtsstreite geführt,
hast mein Leben erlöst.
HERR, du hast gesehen, wie man mir das Recht beugt,
verschaffe du mir mein Recht!
Du hast all ihre Rachegelüste gesehen,
all ihre Pläne gegen mich.

Ihr Schmähen hast du vernommen, HERR,
all ihre Pläne gegen mich,
das Reden jener, die sich gegen mich erheben, und ihr Gerede
gegen mich, jeden Tag.
Ob sie sitzen oder sich erheben – schau hin:
Ich bin ihr Spottlied!

Zahle es ihnen heim, HERR,
wie es dem Tun ihrer Hände entspricht.
Gib ihnen Verblendung ins Herz.
Dein Fluch über sie!
Verfolg sie voller Zorn und zerschmettere sie
unter dem Himmel des HERRN! (Klgl 3,1-66)

 

Liebe Gemeinde

Das dritte Klagelied ist hartes Brot. Es endet mit einem regelrechten Fluch.

«Zahle es ihnen heim, HERR,
wie es dem Tun ihrer Hände entspricht.
Gib ihnen Verblendung ins Herz.
Dein Fluch über sie!»

Ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden hattet euch überlegt, was eure Themen seien fürs Konfjahr. Fluchen war eines. Ich liess mir meine Überraschung nicht ansehen, oder? Die Bibel hat da keine falschen Hemmungen. Hier steht ein deftiger Fluch. Bis dahin geschieht einiges, und dem will ich heute mit euch nachgehen.

Das kleine Büchlein der Klagelieder geniesst im Judentum großes Ansehen. Es ist die Festrolle für den 9. Av (im Juli/August). Ein Tag tiefer Trauer, an dem bis heute der Zerstörung Jerusalems und des Tempels gedacht wird.

Während die Klagelieder rezitiert und gesungen werden, gehen die Gedanken zurück in das Jahr 587 v. Chr, als der babylonische König Nebukadnezar mit seiner Heeresmacht Jerusalem verwüstet, ihre Mauern geschleift, den Tempel verbrannt und einen Teil der Bewohner in die Gefangenschaft geführt hat.

«Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war!», so hebt der erste Vers der Klagelieder an. Das Datum 587 v. Chr. steht beispielhaft für viele weitere Katastrophen und Anfeindungen, die Israel als Volk, aber auch einzelne Jüdinnen und Juden im Laufe einer leidvollen Geschichte erfahren haben und die in der Verlesung der Klagelieder am 9. Av ineinanderfliessen und vor Gott gebracht werden. Das jüdische Volk hat eine Geschichte der Katastrophen durchgemacht. Hat alles verloren. König, Tempel, Stadt, Güter, Verheissung weltlicher Macht und Selbstbestimmung, Krieger, Kinder, Frauen, Alte, Millionen und alle Gewissheiten. Alle?

Gott hat sich seinem Volk, seiner Stadt, der Tochter Zion entzogen. Der Schutzschild ist weg. Wir sind entblösst und das zeigt sich insbesondere an den wehrlosen Frauen, den Töchtern – und der Stadt ohne intakte Mauer, der Tochter Jerusalem.

Die «Tochter meines Volkes», Jerusalem, die Stadt ist geschändet, wie es die Töchter der Stadt sind.

Die äussere Situation ist damit klar. Was aber geschieht innerlich in diesem Gedicht? Ich höre hier zu Beginn:

Ich bin der Mann, der das Elend gesehen hat,
das Werk des Stocks seines Zorns.
Mich hat er vertrieben und fortgeführt
in die Finsternis und nicht ins Licht.
Ja, gegen mich wendet er wieder und wieder seine Hand,
jeden Tag.

Ich bin der Elende. Und Er – wer ist dieser Er?

Zuerst ist fast unklar, wer dieser Gegenspieler ist, Gott? Der Klagende selbst? Seine Feinde? Ein ganzes Arsenal an Sadismen wird aufgefahren. In sechs Bildern ergeht er sich: da ist die Vertreibung durch den Mann mit Stock, der die wilden Tiere vertreibt, da liegt er im Kerker eingeschlossen, in den Sarg eingemauert, zwei wilde Tiere schicken sich an, ihn zu zerreissen: Bär und Löwe; ja wie der Jäger mit seinem Bogen, der seiner Beute eine Falle mit dornigem Gestrüpp stellt, wie der Krieger seinen Gegner in den Staub drückt: das alles sind die Bilder, die er für GOTT braucht. Gott ist mein Feind.

Die Katastrophe der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und des Exils der Priester und Adligen beraubte Israel seiner Daseinsgrundlagen und seiner Glaubenssätze. Alles war weg. Das schlimmste war: da war die Hoffnung weg. Die Verbindung mit Gott.

Das Besondere in unserem Lied ist: Der tiefe Einschnitt der babylonischen Gefangenschaft wird im Buch der Klagelieder auf besondere Weise gedeutet. In den anderen biblischen Büchern steht die Anklage Israels im Mittelpunkt; da sind die Propheten, welche die Katastrophe mit einem falschen Verhalten des Volkes und seiner Regenten, seiner ruling class, begründen und es zur Selbsterkenntnis führen wollen und Gott als Richter in einem ganz grossen geschichtlichen Zusammenhang predigen, ins rechte Licht rücken.

In unserem Klagelied richtet sich die Anklage gegen Gott selbst:

Ja, in der Mitte der fünf Lieder, im dritten Lied, wird Gott nicht nur dem Volk, sondern auch dem Einzelnen zum Feind; Gemeinde und Individuum verschmelzen in der Gestalt eines „Mannes“. Steht er für das geschundene Jerusalem, die Tochter? Oder wird schon hier auf den Propheten Jeremia als exemplarische Leidensgestalt angespielt, der schon früh als Verfasser und erster Sänger der Klagelieder gilt? Aber hören wir auf seine Klage:

Und aus dem Frieden hast du mich verstossen,
was Glück ist, habe ich vergessen!
Und ich sagte: Verloren ist mein Ruhm.

Gott hat den Beter aus dem Licht in die Finsternis versetzt, er hat ihn für tot erklärt; Gott ist sein Todfeind. – Harte Worte sind das gegen Gott! Gott als Feind des Lebens? Unweigerlich stellt sich die Frage: Ist das das Ende? Wie ist jetzt noch Zukunft möglich?

Da besinnt sich der Dichter: Meine Klage ist wie Wermut und Gift.
Erstens: es ist schädlich, sich der Klage zu überlassen, Gift ist Klage. Sie kann innerlich zerfressen, was äusserlich schon angeschlagen ist. Wenn der Patient die Hoffnung verliert, ist es um seine Genesung endgültig geschehen. Ins Herz geht das Gift.

Es ist auch Wermut. Ein Kraut, das bitter schmeckt und die Verdauung anregt und so Heilkraft entwickelt. Der Gemeine Wermut oder Gelbe Beifuss ist eines der Kräuter, das vor allem in flüssiger Form Bekanntheit erlangte – sei es als Tee gegen diverse Magenbeschwerden oder als Alkohol in Form von Wermutschnaps oder dem berühmt-berüchtigten Absinth. Schon in der Antike war es ein bekanntes Heilmittel. «Was bitter im Mund, ist fürs Herzen gesund», pflegte meine Oma zu sagen, wenn eine Medizin uns Kindern nicht gut schmeckte.

Und damit zweitens: Gott hat noch eine andere, gute Seite, bietet Gnade, ist Garant einer offenen Zukunft.

Was führt zur „Peripetie“, zum Umschlagen von der Klage in Selbstmitleid zur Ermannung in Selbsterkenntnis, was führt vom Jammern zur einsichtigen Klage, die um das Verlorene trauert, aber die Zukunft schultert?

– da steigt die Einsicht auf, dass Gott gut ist und dass er immer eine Zukunft hat und darum hat er auch mir noch eine Zukunft, wenn es nach seinem guten Willen geht.

– und da führt der Weg über die Anerkennung, dass ich selbst gesündigt habe.

Diese Meditation der Klage Jeremias führt den Weg wie Hiobs Geschichte. Es steigt die Erinnerung auf an die Zeit, wo Gott mit grossem Einsatz seinem Volk Recht verschafft hatte. Und sie schliesst mit einem deftigen Fluch, der die ganze aufgestaute Wut herausschreit. Es geht mir ans Lebendige!

Wie wunderbar orientalisch auch der Gedanke, mit dem der Klagende an Gottes Herz rühren will: Gott hört das Schmähen der Feinde seines Volkes. Das geht ihm dann doch an die Ehre. Da greift er doch ein! Er muss.

Es ist Mai 1943. Der Aufstand im Warschauer Ghetto dauert schon einige Wochen. Die dort eingepferchten Juden wehrten sich gegen die Deportation in KZs. Doch nun ist es aus. Das Ghetto wird mit Artilleriefeuer beschossen. Viele Häuser brennen. Jossel Rackower sitzt in einem der letzten Häuser im Ghetto, das noch nicht brennt, es ist nur eine Frage der Zeit. Da legt Rackower folgendes verzweifeltes Bekenntnis ab:

„Du, Gott, sagst, wir haben gesündigt. Natürlich haben wir gesündigt, dass wir dafür bestraft werden – auch das kann ich verstehen. Ich will aber, dass Du mir sagst, ob es eine Sünde in der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient?

Ich sterbe ruhig, aber nicht befriedigt, ein Geschlagener, aber kein Verzweifelter, ein Gläubiger, aber kein Betender, ein Verliebter in Gott, aber kein blinder Amensager.

Ich bin ihm, meinem Gott, nachgegangen, auch wenn er mich von sich geschoben hat, ich habe sein Gebot erfüllt, auch wenn er mich dafür geschlagen hat, ich habe ihn liebgehabt und war und bin verliebt in ihn, auch wenn er mich zur Erde erniedrigt, zu Tode gepeinigt, zur Schande und zum Gespött gemacht hat.

Und das sind meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir nicht gelingen! Du hast alles getan, damit ich nicht an Dich glaube, damit ich an Dir verzweifle! Ich aber sterbe, genau wie ich gelebt habe, im felsenfesten Glauben an Dich. Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einig und einzig!“

Was macht dieser Mann in seiner ausweglosen Lage?

Zunächst einmal spricht er der Lage jeden Sinn ab! So viel Ungerechtigkeit, Leid und Schrecken kann keinen Grund haben in Gott, kann keinen Sinn haben. So viel Leid kann niemand verdient haben. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen in einem Menschenleben und der Geschichte eines Volkes wird vom Tisch gefegt. Ein gutes Verhalten hat eben nicht auch ein gutes Schicksal zur Folge. Ich kann noch so ein guter Mensch sein und trotzdem kann ich einfach so schwer krank werden, einen Unfall haben oder es passiert sonst irgendwas Schlimmes. Oder umgekehrt: Der dümmste Bauer hat die grössten Kartoffeln.

Der Verlust des Sinns hat aber bei Rabbi Rackower gerade nicht zur Folge, dass er sich von diesem Gott, abwendet. Nein, genau im Gegenteil, er hält bockig und stur an ihm fest. Er will an ihm festhalten, komme was wolle. Was gewinnt er dabei? Warum soll er nicht diesen Gott, der ihn ja nur von sich geschoben hat, loslassen?

Durch sein stures Festhalten an Gott gerät er in die Lage zu klagen. Ohne etwas oder jemanden, an den man die Klage adressieren kann, der sich die Klage auch anhört, macht klagen ja wohl keinen Sinn. Er gewinnt aber auch einen Angeklagten für seine Anklage. Und Gott stellt sich als Angeklagter zur Verfügung.

Und Jossel Rackower tut noch etwas, indem er an Gott bockig festhält: Er hält die Sinnlosigkeit im Hier und Jetzt aus, er schafft es irgendwie den Sinn ausserhalb der Situation zu suchen. Natürlich schimpft er, natürlich klagt er an, aber genau darin kann er die Ausweglosigkeit, die Sinnlosigkeit aushalten. Und die letzte Verantwortung abgeben. An Gott. Er bleibt Gottes Freund aus eigenstem Antrieb – und ohne einen Nutzen, eine Absicht zu haben, ausser als den tiefsten Wunsch und Willen aus seiner tiefsten Seele, ein Freund Gottes zu bleiben. Was kann uns trennen von der Liebe Gottes!  Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. Amen.
Pfr. Roland Diethelm

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