„Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit.“ Predigt zum Erntedank vom 23.10. 2022

Der 145. Psalm singt ein Lied auf Gottes Grosszügigkeit und Güte. Die ganze Welt liegt im Erntedankfieber. Alles ist sprichwörtlich darauf hin ausgerichtet, dem eigenen Schöpfer zu danken, ihn zu erheben, von ihm in höchsten und schönsten Tönen zu singen.

Psalm 145
Ein Loblied Davids.
Ich will dich erheben, mein Gott und König,
und deinen Namen preisen immer und ewig.
2 Allezeit will ich dich preisen
und deinen Namen loben immer und ewig.
3 Gross ist der HERR und hoch zu loben,
unerforschlich ist seine Grösse.
4 Eine Generation rühmt der andern deine Werke,
und deine mächtigen Taten verkünden sie.
5 Pracht und Glanz deiner Hoheit
und die Kunde deiner Wunder will ich bedenken.
6 Von der Macht deiner furchterregenden Taten sollen sie sprechen,
deine Grosstaten will ich erzählen.
7 Den Ruhm deiner grossen Güte sollen sie ausbreiten
und deine Gerechtigkeit bejubeln.
8 Gnädig und barmherzig ist der HERR,
langmütig und reich an Gnade.
9 Der HERR ist gut gegen alle,
und sein Erbarmen waltet über allen seinen Werken.
10 Es preisen dich, HERR, alle deine Werke,
und deine Getreuen loben dich.
11 Sie sprechen von der Herrlichkeit deines Reichs
und reden von deiner Macht,
12 um den Menschen kundzutun deine mächtigen Taten,
Glanz und Pracht deines Reichs.
13 Dein Reich ist ein Reich für alle Zeiten,
und deine Herrschaft währt von Generation zu Generation.
14 Der HERR stützt alle, die fallen,
und richtet alle Gebeugten auf.
15 Aller Augen warten auf dich,
und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.
16 Du tust deine Hand auf
und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.
17 Der HERR ist gerecht auf allen seinen Wegen
und getreu in allen seinen Werken.
18 Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen,
allen, die ihn wahrhaft anrufen.
19 Er erfüllt das Verlangen derer, die ihn fürchten,
er hört ihr Schreien und rettet sie.
20 Der HERR behütet alle, die ihn lieben,
alle Frevler aber wird er vertilgen.
21 Mein Mund verkünde das Lob des HERRN,
und alles Fleisch preise seinen heiligen Namen,
immer und ewig.

Liebe Gemeinde
Der 145. Psalm singt ein Lied auf Gottes Grosszügigkeit und Güte. Die ganze Welt liegt im Erntedankfieber. Alles ist sprichwörtlich darauf hin ausgerichtet, dem eigenen Schöpfer zu danken, ihn zu erheben, von ihm in höchsten und schönsten Tönen zu singen.
“Es danken dir, HERR, alle deine Werke, und deine Getreuen segnen dich.”
Gönnend ist der HERR, ein erbarmender, geduldiger und gnadenreicher. Der HERR ist gut gegen alle, gegen sein gesamtes Gegenüber.
Es gibt nur wenig, was den Herbst besser beschreibt, wenn alle Früchte des Feldes und alles bunte Laub in mildem Sonnenlicht auf einmal die Fülle des Lebens zeigen. Und es gibt genau diese Tage jetzt, wo uns die Natur als grosszügige Schöpfung eines noch viel grosszügigeren Schöpfers so deutlich offenbar wird.
Gestern im Walki-Bauernhof sahen wir die Gemüse und Feldfrüchte schön präsentiert auf Strohballen in der Herbstsonne glänzen. Schöner als die Stilleben, welche in unseren Museen zu bewundern sind, war dieses Original. Aus Boden und Sonnenlicht, von der Hände aufmerksamer Pflege und Arbeit des Gemüsebauern, gewachsen und gereift aus Regentagen und Sonnentagen. Was gibt es Schöneres als einen Bauernhof in der Erntezeit, mit Vater und Sohn: ein Bild des Segens zum Herz-Erwärmen! Und die chinderfiir-Kinder machten sich her über die Gurken und Rüben, Birnen und Äpfel, Rotkohl und Rosenkohl, Lauch und Kürbisse. Sie werden uns nachher daran teilnehmen lassen!
In zwei Versen unseres Psalms bringt der Dichter das auf den Punkt:
„Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit. Du tust deine milde Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.“
Diese beiden Verse bilden ein klassisches Tischgebet, vielleicht das berühmteste evangelische Tischgebet überhaupt. Kennen Sie die Vertonung durch Heinrich Schütz? „Aller Augen warten auf dich, Herre …“
Wenn wir von Schöpfung und Schöpfer reden, dann behaupten wir etwas über die Natur. Dann stellen wir fest: hier wird gefressen und gejagt, aufgebaut und einverleibt. Und in alle diesem Fressen und Gefressen Werden, in diesem Werden und Vergehen, in diesem Tarnen und Jagen, in diesem Pflegen und Plündern, da wirkt eine grosse Güte, eine Grosszügigkeit. Da tritt eine Ordnung zutage, die es gut mit allem meint. Eine Ordnung, die das Leben an und für sich liebt. Sie sättigt alles, was lebt, mit Wohlgefallen. Wir behaupten: da ist ein Schöpfer, der seiner Schöpfung mit Güte und Liebe gegenübertritt und sie erhält. Am Leben erhält.
„Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit. Du tust deine milde Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.“
Aus der Nahrungskette erkennt unser Glaube die milde Hand Gottes. Dieser Gott sorgt für alles Leben. Er nimmt die Schwachen in Schutz. Er hört ihr Schreien und rettet sie, heisst es. Er behütet, die sich in seinen Schutz begeben, die seine Ordnung anerkennen. Unser Psalm verbindet nämlich das universale Gotteslob mit der Fürsorge für alles, was lebt, mit der Fürsorge für die schreiende Kreatur, die hungrige, die entblösste. Erbarmen, Güte, Zuwendung zum einzelnen, eingehen auf den Bedürftigen.
Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit. Du tust deine milde Hand auf und sättigst alles, was lebt, mit Wohlgefallen.“

Mir fallen zwei Sachen auf. Erstens: Die Augen. Und Zweitens: Die rechte Zeit.
Die Augen. Sie warten. Das hebräische Wort bedeutet „genau prüfen“, mit den Augen auf etwas oder jemand so schauen, dass man alles wahrnimmt. Meine Katze kann das. Wenn ich mich an den Sack mit dem Trockenfutter mache. Oder wenn ich die Schublade mit dem Nassfutter öffne. Dann warten ihre Augen. So wartet sie allerdings auch auf ahnungslos zwischenlandende Vögel im Garten. Stellt euch vor, wieviele Augenpaare auf Gottes milde Hand warten! Welche Augen ich da sehe! Schliesse deine Augen und betrachte die vielen Augen dieser Welt. Jedes Augenpaar wartet auf Gott. Spirituell wird das Bild der Augen, wenn ich zulasse, auch die Augen derer zu erkennen, die ich nun gerade nicht so mag. Die mir leid sind. Die mir Ehre abschneiden oder vor der Sonne stehen. Mit denen ich nur allzu gerne jeden Augenkontakt vermeide.
Augen ohne Zahl habe ich gerade auf meiner letzten Reise gesehen. In Madagaskar. Gewimmel ohne Anfang und Ende. Und als „Weisser“ falle ich dort sofort auf und bilde selber so etwas wie ein Interesse, die Hoffnung auf eine milde Hand, die sich öffne. Donne-moi le coin. Gib mir die (Euro-)Münze. Le cadeau. Das Gschänkli. Die 30 Millionen Madagassen leben von der Hand in den Mund. Buchstäblich. Vor 22 Jahren bei meiner ersten Reise war das schon so. Da waren es noch 15 Millionen.
Und in einer Generation sollen es 60 Millionen sein. Von welcher milden Hand sie leben werden, weiss ich nicht. Ihr Land wird keinen Ertrag mehr abwerfen. Bei meiner ersten Reise fuhr ich noch fast eine Stunde lang durch einen Urwald. Für Edelhölzer und einige Bananenstauden waren bereits Wunden in den wunderschönen hohen Wald geschlagen. Da und dort trat der nackte Boden hervor, erste Erosionsschäden störten das Betrachten und Verweilen meines Auges am grünen Kleid. Und nun bei meiner letzten Reise war da kein Wald mehr, ja kein einziger Baum. An den Rändern weisse Reissäcke mit Holzkohlestückchen und arme Jungs mit kohlenrabenschwarzen Gesichtern: Köhlerbuben, die die letzten Reste von Flora in Holzkohle verwandeln, um selber ein bisschen Reis kaufen zu können. Der einstige prächtige Wald: Angefressen von der Gier nach Tropenholz, leergefressen vom Hunger nach täglichem Brot, abgefressen vom Hunger nach Holzkohle, mit der jeder seine dürftige Mahlzeit kocht. 15 Millionen mal, 30 Millionen mal, 60 Millionen mal. Die vielen Augen der Menschen führen ganz direkt zum Verschwinden der anderen vielen Augen. Das Artensterben hat nicht nur auf der herrlichen Insel gewütet, es wütet auch etwas stiller hier bei uns. Dass die Hälfte der Insektenarten am Aussterben sei, hatte uns mal kurz erreicht. Und dass fast die Hälfte aller Brutvögel auch in der Schweiz auf der roten Liste steht, folgt daraus sehr logisch.
Wussten Sie, dass es auf der Erde mehr Menschen, Haus- und Nutztiere gibt als Wildtiere – wenn wir Säugetiere und Nager betrachten? Mich erschreckt es.
So wird die Biomasse aller Nutztiere (wie Rinder, Pferde, Schweine, Hühner etc.) mit einem Wert von 65 % berechnet. Dazu kommt noch die Menscheit mit 32 %. Dem gegenüber steht die Biomasse aller Wildtiere (vom Elefant bis zur Haselmaus) zu Land mit nur 3 %. Das bedeutet, der Mensch und seine gezüchteten Nutztiere stehen gegenüber allen auf den Kontinenten befindlichen Wildtieren im Verhältnis 97 % zu 3 %!

Zur rechten Zeit. Punkt zwei. Wörtlich heisst es im Psalmvers „zu seiner Zeit.“ Gemeint ist zu der von Gott bestimmten Zeit. Unsere Zeit ist sicher nicht lobenswert und das was wir anrichten, lobpreist einen Gott des Grauens und Gemetzels. Ganz ohne Frage stehe ich dafür ein, einem Volk bei der Selbstbehauptung gegen den Aggressor Putin zu helfen, mit allem, was nötig und hilfreich ist. Umso schärfer bleibt mir nur ein Urteil über die Welt, welche wir angerichtet haben, welche wir Menschen aufgebaut haben: sie ist eine perverse. Milliarden von Werten und Produktion verpulvern wir. Jeden Tag ertappe ich mich, wie ich die Nachrichten absuche und mich freue über die Verluste der Angreifer, natürlich. Über die Macht der Angegriffenen, sich zu erwehren. Erfolgreich zu wehren. Immerhin. Und dabei schauen unsere Augen auf Materialschlachten, als hätten wir Überfluss. Auf Vernichtung von Werten und Vorräten. Als hätten wir Malaria, AIDS und Hungerbäuche besiegt. Als hätten wir eine nachhaltige Energieversorgung eingerichtet, als hätten wir einen Ressourcenkreislauf, mit dem uns die Erde erträgt über die nächsten Generationen. Als könnten wir uns das Leben an sich in dieser leergefressenen Welt leisten!

Zu deiner Zeit, Gott des Lebens, wird dies anders sein. Dies hier, was wir bieten als Lobgesang, ist nicht dein Lob und dein Segen. Die Sonne auf dem Bauernhof im Erntedank scheint auf eine Welt, die wir noch erhoffen und erbitten. Sie scheint auf in der Feier des Abendmahls. Sie ist die kommende Schöpfung. Amen.

Predigtgebet
Du hast Macht, Gott.
Begegne mit deiner Macht
meinen Enttäuschungen,
den Schatten meiner Angst,
dem Schmerz meines Versagens, dem Dunklen und dem Ungewissen, der Enge.
Du sorgst für deine Schöpfung, Gott.
Sorge für alle, die ihr Geld damit verdienen, dass sie produzieren, was wir brauchen.
Für alle, die nach neuen Perspektiven für unsere Erde suchen. Für alle, deren Lebensbedingungen von unserer Lebensweise abhängen.
Für alle, die politische und wirtschaftliche Verantwortung haben.
Für alle, die helfen und unterstützen, wo sich sonst keiner kümmert.
Für alle, die trotzdem hungrig bleiben.
Du gibst im Überfluss, Gott.
Gib Hoffnung und Licht,
Zutrauen.
Gib genügend zu Essen und zu Trinken.
Ein Dach über dem Kopf und ein trockenes Fundament. Den Segen deines Wohlwollens.
Den Reichtum deines Schweigens. Den Reichtum deiner Freigebigkeit. Leg in mein Herz dein „Ich bin da“.
Amen.

Pfr. Roland Diethelm

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